Frankreich
Internationale Presse: "Nach 'blassem Schüler' in Österreich jetzt 'Lehrmeister' in Frankreich gewählt"
La Stampa: "Auf ihrer beliebtesten Achse zwischen Paris und Berlin hat die europäische Politik ein Match mit jahrelangen Folgen erlebt"
Im Folgenden eine Auswahl an internationalen Pressestimmen vom Dienstag zur Wahl in Frankreich:In Spanien zieht die linksliberale
Zeitung "El Pais" (Madrid) einen Vergleich der ersten Runde in den
französischen Präsidentschaftswahlen mit dem Abschneiden der FPÖ bei
den Nationalratswahlen vor zwei Jahren in Österreich:
"Das Undenkbare ist eingetreten, und die Franzosen fragen sich
nach dem Warum. Die Abneigung der französischen Wähler gegenüber
ihren Regierungen hat schon früher oft zu einem scharfen Rechts- oder
Linksruck geführt. Aber dieses Mal wurde der Rahmen gesprengt. Das
gesamte System wurde in Frage gestellt. Ausgerechnet Frankreich, das
damals von Österreich Rechenschaft verlangte wegen der Wahl eines
blassen Schülers von Le Pen, votierte jetzt für den Lehrmeister. Der
Demagoge wird den Test der zweiten Runde nicht bestehen. Dazu müssen
die Franzosen allerdings ihre politischen Überzeugungen vergessen und
das verteidigen, was sie verbindet. Dies sind die republikanischen
Werte der Toleranz und der Freiheit."
Der Wahlausgang beschäftigt auch die "Neue Zürcher Zeitung"
weiter:
"Der überraschende Wahlerfolg Le Pens hat in Frankreich einen
Schock ausgelöst, bei Politikern und Medien, aber auch in der breiten
Öffentlichkeit. Man nimmt zur Kenntnis, was man nicht wahrhaben
wollte: Der Rechtsextremismus, genährt vom Fremdenhass, gedeiht auch
in diesem Land, ist ein politischer Faktor, mit dem zu rechnen ist,
so gut wie anderswo in Europa, trotz allen Beschwörungen von Republik
und Resistance. Auch in dieser Hinsicht gibt es - leider - keine
'exception francaise' mehr.
Der Wahlkampf wurde bisher geführt als Schönheitswettbewerb von
Technokraten, die das Publikum mit Schlagworten, Leerformeln und
Abkürzungen langweilten. Im Publikum machte sich Überdruss breit, der
sich in einer außergewöhnlich hohen Stimmenthaltung manifestierte.
Mit seinem Wahlerfolg erzwingt Le Pen jetzt neue Bewegung in der
französischen Politik. Chiracs Rhetorik kündigt es an: Es geht jetzt
um Werte, um Frankreichs Idee".
Die konservative britische Zeitung "The Times" schreibt am
Dienstag:
"Europas beste Antwort auf die Herausforderung der Populisten und
der Rechtsextremisten wäre die Entschlossenheit, die Themen
abzuarbeiten, die sie aufpäppeln, und die skrupellosen Methoden zu
verurteilen, die sie benutzen. Die politischen Führer des Kontinents
müssen erklären, warum die wirtschaftliche Liberalisierung und die
sie begleitende Offenheit für ein neues Reservoir von Arbeitskräften
die beste Hoffnung für eine nationale Renaissance sind. Die Politiker
des Kontinents müssen vor allem erkennen, dass in einer Welt des
Wandels der Wunsch nach Sicherheit sein sicherstes Ventil im
wichtigsten politischen Konstrukt Europas findet, nämlich im
liberalen, demokratischen Nationalstaat. Jene Politiker, die sich
nicht für eine zivilisierte Verpflichtung gegenüber der Nation
einsetzen, könnten zunehmend mit dem hässlichen Nationalismus zu tun
bekommen."
Die linksliberale britische Zeitung "The Guardian" schreibt zum
selben Ereignis:
"Frankreichs Wahlergebnis war ein abschreckender Hinweis auf das,
was geschehen kann, wenn eine moderne Demokratie den Kontakt zum Volk
verliert. Frankreichs Wahlergebnis war zweifellos symptomatisch für
einen größeren europäischen Trend hin zur äußersten Rechten. Es war
ganz sicher ein Protest gegen Filz und Korruption auf höchster Ebene
und gegen die Politik 'as usual'. Es kam einer demütigenden
persönlichen Erniedrigung nicht nur Jospins, sondern auch Chiracs -
der selbst zu einem 20-Prozent-Mann wurde - gleich. Es war auch ein
Alarmzeichen nach dem 11. September für die Beziehungen zur
islamischen (und jüdischen) Welt. Aber Frankreichs Wahlergebnis ist
nicht unabänderlich und keineswegs das letzte Wort. Dieser Moment des
Wahnsinns könnte sich als der notwendige Wegbereiter für eine
nüchterne, überfällige und entscheidende Neubewertung von Prioritäten
erweisen."
Auch in Italien beschäftigen sich die Tageszeitungen weiterhin
ausführlich mit Le Pen und dem Wahlergebnis. Die Turiner Tageszeitung
"La Stampa" schreibt:
"Auf ihrer beliebtesten Achse zwischen Paris und Berlin hat die
europäische Politik ein Match mit jahrelangen Folgen erlebt. Das
Duell zwischen Chirac und Le Pen hat Frankreich bereits verändert,
danach wird Edmund Stoibers Deutschland an der Reihe sein, und dann
ganz Europa. Während sich für Chirac fünf Jahre Einfluss auf die
Außenpolitik eröffnen, ist die Kanzlerschaft für Stoiber in
Reichweite."
Die römische Tageszeitung "Il Messaggero":
"Es ist wenig beachtet worden, dass die französischen
Präsidentschaftswahlen der erste Urnengang in einem großen Land der
Union seit der Euro-Einführung sind. Dabei scheinen die Sorgen vor
den laufenden Veränderungen ein ziemlich wichtiger Faktor für die
Verwirrung der Wähler zu sein, ob in Richtung der extremen Rechten,
der extremen Linken, oder sogar der Nichtbeteiligung. Ein erfahrener
Politiker wie Präsident Jacques Chirac hat das sofort gemerkt und
nach der Wahl einen Appell zur "Verteidigung der Nation" gerichtet."
Zum Überraschungsergebnis des ersten
Durchgangs der Präsidentschaftswahlen in Frankreich schreibt am
Dienstag die russische Zeitung "Iswestija" (Moskau):
"Frankreich ist heute, zum ersten Mal nach vielen Jahren, in einer
unangenehmen, teilweise auch komischen Situation. Und man kann sich
nur schwer vorstellen, dass jetzt noch irgendjemand in Europa demütig
französische Rügen und Belehrungen über sich ergehen lassen wird, sei
es auf Sitzungen des Europarates in Straßburg oder bei Beratungen der
EU-Minister in Brüssel. Der Triumph von Jean-Marie Le Pen hat den
politischen Charakter der alten Elite verändert. Europas Anhänger der
"allgemeinen menschlichen Werte" haben plötzlich ihren Anführer
verloren."
Die Moskauer Tageszeitung "Nowyje Iswestija" kommentierte am
Dienstag:
"Einen Tag nach Hitlers Geburtstag hat die französische Rechte
ihren größten Sieg der Nachkriegsgeschichte errungen. (...) Das Land
liegt jetzt fast im Koma. (...) Doch mit ihren Stimmen für die Rechte
haben sich die Franzosen selbst vor ihrer Courage erschreckt. Das
Ergebnis der ersten Abstimmung hat ein wenig den Schleier über der
wahren Situation in Frankreich gelüftet. Die Franzosen sind
desorientiert. (...) Frankreich als eine der ältesten Demokratien ist
jetzt zu grundlegenden Reformen gezwungen."
Die russische Armeezeitung "Krasnaja Swesda" (Roter Stern) sieht
den Ausgang der ersten Abstimmung der Wahlen in Frankreich als Teil
eines europäischen Ganzen:
"Der Erfolg Le Pens ist überhaupt kein Witz. Seine mitreißende
Rolle sollte nicht ignoriert werden. In ganz Europa ist eine ganze
Generation junger Menschen mit rasierten Köpfen herangewachsen. Die
Millionen Toten durch die braune Pest im vergangenen Jahrhundert sind
für sie nichts. Sie lechzen nach neuen extremen Gefühlen. Sie
marschieren und kopieren die Ausfälle von Hitlers Schlägertypen. Ihre
Legionen wachsen und erhalten stets neues Blut. Paradoxerweise steht
Russland in dieser Richtung auch nicht hinten an. Steht das viel zu
sorglose Europa nicht etwa vor der Gefahr einer neuen Welle des
Faschismus?"
Die linksliberale bulgarische Zeitung "Sega" schreibt am Dienstag
über den Wahlerfolg Jean-Marie Le Pens:
"Le Pens Erfolg diskreditierte Frankreich unter seinen Partnern in
Europa, könnte jedoch auch eine genesende Rolle spielen. Nach
Österreich und Italien zeigte die extreme Rechte auch in Frankreich,
dass sie wegen der Abnutzung der traditionellen politischen Kräften
an Boden gewinnt. In der französischen Linken spricht man bereits
über eine Wiedergründung der kommunistischen und der sozialistischen
Partei; die Rechte plant jetzt schon eine Formierung, die geeignet
für die Ära nach Chirac wäre. (...) Das gespaltene Frankreich findet
vielleicht endlich ein gemeinsames Ziel - eine Schranke vor der
Offensive der extremen Rechte zu errichten." (APA)