Wien - Die systematische Ermordung von Patienten ist wohl einer jener Aspekte des Nationalsozialismus, die am wenigsten von der Nachkriegszeit abgetrennt werden können. Dies zeigt neuerlich der jetzt erschienene zweite Band der "Geschichte der NS-Euthanasie in Wien" auf Basis eines Symposiums in Wien. Die Beiträge durchzieht nicht nur der beschämende Umgang mit den Opfern nach 1945, sondern auch der oft geglückte Versuch vieler Ärzte, ihr Tun zwecks Karriereerhalt zu rechtfertigen. Der populären Auffassung, NS-Ärzte hätten keine Ethik gehabt, widerspricht Michael Hubenstorf in seinem Beitrag und vertritt die weit folgenreichere These, wonach die Euthanasietäter in einem normativen System handelten. Dieses habe sich sehr wohl aus Reflexionen abgeleitet, die über eine rein naturwissenschaftliche Betrachtung der Medizin hinausgingen. Der Begriff des Lebens spielte dabei eine zentrale Rolle. Gerade unter Bezugnahme auf "das Leben" wurden abweichende, negativ punzierte Phänomene aber als "lebensfeindlich, starr, tot" erklärt. "Das Leben" selbst wurde so zur Begründung für das "Zurechtbiegen" und Töten der Missliebigen, die den ideologischen Konstrukten von Erbgesundheit und Rassenzugehörigkeit nicht entsprachen. Inwieweit solche - wenn auch nicht dieselben - "Qualitätsmerkmale" auch in die aktuelle Bioethikdebatte einbezogen werden, diskutiert Gerhard Baader. Statt "Qualitätskontrolle des Lebens" fordert er eine Ethik, "die vom fundamentalen Eigenwert menschlichen Lebens" ausgeht und die "Verpflichtung beinhaltet, für menschenwürdige Lebensbedingungen aller Sorge zu tragen". Dass dies auch nach 1945 nicht selbstverständlich war, zeigt die fortgesetzte Zwangssterilisierung - und deren Rechtfertigung durch Behörden, die mit Entschädigungsansuchen konfrontiert wurden. Kontinuitäten weist auch Peter Malina in seinem Artikel über die bisher weniger bekannte Kinder- und Jugend-"Fürsorge" nach. Der Leiter des Erziehungsheims "Am Spiegelgrund", Johann Krenek, etwa wurde schon 1946 wieder in die SPÖ aufgenommen. Im selben Jahr veröffentlichte er ein "Hilfsbuch zur Erziehung". Darin tradierte er NS-Ideen: "Arbeitsunlust, Eigentumsdelikte und sexuelle Verwirrung sind es, die unsere Jugend in erster Linie bedrohen". (rosch, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25. 4. 2002)