Der tschechische Parlamentspräsident Václav Klaus, einer der Favoriten für das Amt des Regierungschefs nach den Parlamentswahlen im Juni, spricht von "staatsmännischen" Erwägungen, die über die Parteipolitik gestellt worden seien.

Das trifft insofern zu, als mit der gestrigen Erklärung des Prager Unterhauses zu den so genannten Benes-Dekreten das Thema aller Voraussicht nach aus dem Wahlkampf herausgehalten wird. Und das muss auch im Interesse jener liegen, welche die Enteignungs- und Vertreibungsdekrete für unvereinbar mit den Menschenrechten halten, weil sie auf dem Prinzip der Kollektivschuld beruhen.

Das hat jetzt übrigens auch der Chef der ungarischen Sozialisten und mögliche neue Außenminister László Kovács in einem Interview mit einer slowakischen Zeitung bekräftigt. Die Entscheidung, ob die Benes-Dekrete ein Hindernis für den EU-Beitritt Tschechiens darstellen, will Kovács Brüssel überlassen. Der scheidende ungarische Premier Viktor Orbán hält dagegen, wie auch die österreichische Regierung und der bayerische Ministerpräsident und Unions-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber, die Dekrete für unvereinbar mit einer Mitgliedschaft in der Union.

Tatsächlich prüft die Europäische Kommission der- zeit noch einige der dama- ligen tschechoslowakischen Rechtsakte, welche die Enteignung und Vertreibung der deutschen und der ungarischen Bevölkerungsgruppe bei und nach Kriegsende betreffen. Erweiterungskommissar Günter Verheugen hat gegenüber profil speziell das Amnestiegesetz aus dem Jahr 1946 genannt.

Dieses von der Einstweiligen Nationalversammlung in Prag verabschiedete Gesetz stellt alle im Zeitraum von 30. September 1938 bis 28. Oktober 1945 als "gerechte Vergeltung für die Taten der Okkupanten oder ihrer Helfershelfer" begangenen Verbrechen straffrei. Angesprochen waren damit vor allem Gewaltexzesse bei der so genannten "wilden" Vertreibung, die Tausende Tote forderte.

Laut Prager Deklaration sind die Enteignungs- und Vertreibungsdekrete nach Kriegsende umgesetzt, sozusagen "konsumiert" worden und können damit heute "keine neuen Rechtsverhältnisse" mehr begründen. Diese Formulierung versucht die Quadratur des Kreises: dass die Dekrete gelten (was die durch sie geschaffenen Rechts- und Eigentumsverhältnisse betrifft) und zugleich nicht mehr gelten. Juristisch ist diese Position schwer haltbar, politisch zumindest verständlich: Eine rückwirkende Annullierung der Dekrete hätte unabsehbare Auswirkungen auf die Rechtsordnung Tschechiens (und der Slowakei).

Für das Amnestiegesetz aber kann diese Argumentation nicht gelten: Seine Aufhebung würde die tschechische (und slowakische) Rechts-und Staatsordnung keineswegs erschüttern. Sie wäre, im Gegenteil, ein gewichtiger symbolischer Akt der Absage an die Kollektivschuldthese. Denn mit dem Amnestiegesetz wurden ja de facto alle Angehörigen der deutschen Volksgruppe im Nachhinein für vogelfrei erklärt. Auch tschechische Kritiker der Benes-Dekrete sehen hier den Angelpunkt einer nachhaltigen Entschärfung des Themas.

Bezeichnenderweise bleibt das Amnestiegesetz aus der Erklärung des tschechischen Abgeordnetenhauses völlig ausgeklammert. Offenbar waren und sind sich alle Beteiligten der besonderen Brisanz dieses Gesetzes bewusst, von dem ja niemand ernsthaft behaupten kann, seine Wirksamkeit sei erloschen. Prinzipielle Straffreiheit für Gewaltverbrechen - unter welchen Umständen und aus welchen Motiven sie auch begangen wurden - kann nicht Bestandteil einer europäischen Rechtsordnung sein.

Bei aller begründeten Skepsis und Kritik sollte die Deklaration des Prager Parlaments aber zunächst nach ihrem vorrangigen Zweck beurteilt werden: das Thema innenpolitisch zu entschärfen. Ein echter Schlussstrich kann sie jedenfalls nicht sein. Nach den Wahlen wird man weitersehen. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 25. 4.2002)