"I no write", sagt der 32-jährige Bapie mit einem freundlichen Grinsen. Dabei schaut er neugierig zu, wie die Touristen voll Eifer in ihre Reisetagebücher schreiben. "I no go school, no have money", erklärt er. Bapie ist Koch im "Tango Beach-Resort" auf der kleinen südandamanischen Insel Neil und stammt aus Kalkutta. Er bereitet für die wenigen Gäste Fischspeisen und Hummer, indische Spezialitäten und westliches Frühstück zu. Währenddessen sitzt sein Chef, Mister Bishal, mit den Touristen im mit Palmenblättern gedeckten Freiluftrestaurant und plaudert in gebrochenem Englisch über sein Leben. Sein Großvater floh nach Pogromen und Unruhen 1963 aus Ostpakistan (früher Ostbengalen, heute Bangladesch) nach Neil Island. Indien hat damals Flüchtlingen und Auswanderungswilligen Land auf den Archipelen der Andamanen und Nikobaren zugeteilt.

Bescheidener Wohlstand

Seit einem Jahr führt Mister Bishal mit seiner Familie eine Anlage mit fünfzehn Bungalows und einem Restaurant und ist damit einer von drei Ressortbetreibern auf Neil Island. In seinem Garten wachsen Kokospalmen, Papaya-, Bananen- und Mangobäume. Vier Hühner scharren hinterm Haus nach Würmern, zwei Ziegen fressen die botanischen Schönheiten des Areals auf. Vor der Tür parkt ein Fahrrad im Sand und vervollständigt den nicht unbeträchtlichen Besitz. Auf Neil Island leben etwa 5000 Menschen. Die Mehrheit von ihnen sind eingewanderte hinduistische Bengalen. Sie betreiben Fischfang und Landwirtschaft und haben sich einen bescheidenen Wohlstand geschaffen. Es gibt - im Unterschied zum indischen Festland - weder Kinderarbeit noch Bettler oder Obdachlose. Langsam kommt der Tourismus als erhebliche Einnahmequelle hinzu.

Unberührtes Paradies

Noch verlieren sich die paar westlichen Touristen auf den Inseln und ihren kilometerlangen, von Mangrovenwäldern gesäumten Sandstränden, in ihren artenreichen Schnorchel- und Tauchgebieten. Wer die Einsamkeit mag, findet hier ein noch beinahe unberührtes Paradies vor. Aber wie lange die "Indischen Malediven" ihre Ursprünglichkeit bewahren können, ist ungewiss. Die indische Regierung bemüht sich, den Besucherstrom auf die Andamanen zu forcieren. Eine verlängerte Landebahn am Flughafen Port Blair soll demnächst auch Langstreckenfliegern Start und Landung ermöglichen. Die Inseln der Nikobaren bleiben dagegen bis dato für Ausländer gesperrt.

"The Andaman Islanders"

Im 13. Jahrhundert schrieb Marco Polo vom "Land der Kopfjäger" und unterstellte den Einheimischen grausamen Kannibalismus, obgleich mit guten Gründen bezweifelt werden darf, dass er jemals auf einer der Inseln gelandet ist. Berühmt wurden die Andamaner durch Alfred Reginald Radcliffe-Brown (1881-1955), Mitbegründer der modernen Ethnologie. 1922 publizierte er das Buch "The Andaman Islanders". Zwei Jahre lang, von 1906 bis 1908, führte der Brite als erster Anthropologe umfangreiche Feldstudien auf den Inseln durch. Von der autochthonen Bevölkerung der Andamanen und Nikobaren sind heute nur noch wenige Stammesangehörige geblieben. Die letzten indigenen Ethnien leben in Rückzugsgebieten und sind vom Aussterben bedroht.

Neil Island - Beschaulichkeit pur

Auf dem kleinen Eiland geht es beschaulich zu. Nur drei Autos verkehren auf der Insel: ein Ambulanzwagen, ein Jeep und ein Minibus. Auch die Polizei muss ohne Fahrzeug auskommen. Als Fortbewegungsmittel dienen Fischerboote, Ochsenkarren, Fahrräder und die eigenen Füße. Jeden Mittwoch und Samstag legt die Fähre aus der Hauptstadt Port Blair nach dreistündiger Fahrt auf Neil Island an. Die Ankunft des Schiffes ist ein Ereignis, zu dem sich das halbe Dorf am Pier versammelt. Auch Mister Bishal ist dabei. Er versucht, Gäste zu keilen. An manchen Tagen kehrt er in gedrückter Stimmung erfolglos vom Hafen zurück. "No guest coming today. All going Havelock". Havelock ist der große Nachbar Neils und die touristisch am besten erschlossene Insel des südandamanischen Ritchie-Archipels. Dort stehen bereits Fünf-Sterne-Bungalows, Motorscooter, Surfbretter, Tauchbasen, Shopping und Entertainment für die indischen und westlichen Urlauber bereit.

Spartanische Unterkunft

Diesen Luxus vermag Mister Bishal nicht zu bieten. Seine Bungalows sind wohlfeil für 50 Rupien (EURO 1,25) pro Nacht zu mieten, spartanisch ausgestattet mit einer Doppelmatratze, einem Ventilator und einer Glühbirne. Nach Einbruch der Dunkelheit kocht Bapie das Abendessen. Das dauert lange, denn es gibt nur einen Kerosinofen, und die Speisen müssen nacheinander zubereitet werden. Wer die Wartezeit bei einem Drink verkürzen möchte, kann sich inzwischen vertrauensvoll an Mister Bishal wenden. Alkoholverkauf ist auf Neil nicht gestattet, aber Mister Bishal organisiert am Schwarzmarkt Fusel, auf dem hochstaplerisch "Wiskey" geschrieben steht. Eine Flasche Bier kostet so viel wie ein feuerroter Hummer aus Bapies Küche, umgerechnet EURO 2,5. Eine Flasche "strong stuff" ist für einen Wucherpreis von 300 Rupien (EURO 7,50) zu erstehen.

Vergängliche Abgschiedenheit

In unregelmäßigen Abständen gibt es für ein paar Stunden Strom. Dann dröhnt Hindi-Musik aus dem alten Radio und vermischt sich mit dem Rauschen des Meeres und den Geräuschen des Dschungels. Der Status quo wird sich wohl nicht mehr lange halten können. Denn die geruhsame Abgeschiedenheit ist relativ. Die Konstante heißt - wie überall - Vergänglichkeit. (Der Standard | Rondo | Barbara Forstner)