Mit 15 roten Rosen im Arm geht Sabine auf das Schulgebäude zu, das wie eine Trutzburg aus den Häuserreihen ragt. Ihr Mann hält sie im Arm, ihr Schwiegervater begleitet sie. Vor dem Schultor, wo sich ein Meer von Blumen und Ker-zen über die Stufen ausbreitet, legt die Erfurterin den Strauß nieder. Immer wieder wird sie von Weinkrämpfen geschüttelt. Auch den beiden Männern, die ihre Schirmmützen abgenommen haben, kullern Tränen über die Wangen."Warum?", fragt die junge Frau immer wieder schluchzend. Ihre Mutter war Sekretärin an der Schule, sie war eines der 16 Opfer. Robert Stein- häuser hat ihr in den Kopf geschossen. Brief an die tote Mutter Als es zu regnen beginnt, wird die weinende Sabine von den beiden Männern weggetragen, da ihr die Beine versagen. Zwei Polizisten haben im Respektabstand von 20 Metern gewartet und treten erst dann vor das Schultor. Sie kämpfen sichtlich mit den Tränen, als sie einen Brief lesen, der neben dem Foto der Zeichenlehrerin Birgit Dettke hängt: "Mama, ich liebe Dich und habe es immer getan. Deine Franziska", hat die 15-Jährige mit rotem Kugelschreiber in Kinderschrift auf ein Blatt Papier geschrieben. Ihre Mutter wurde von ihrem Schüler mit einem Genickschuss umgebracht. Auf den Straßen Erfurts fallen sich am Tag nach dem schrecklichen Vorfall immer wieder Mensch mit rot geweinten Augen in die Arme. Es ist die Stille, die jedem auffällt. Wie Tau scheint sich eine Lähmung über die Landeshauptstadt des Freistaates Thüringen gelegt zu haben. Auf dem Wochenmarkt am Domplatz schleichen Menschen aneinander vorbei, sagen mit gedämpfter Stimme ihre Bestellung an, packen ein, gehen rasch weiter. Zeit zum Gustieren nimmt sich keiner. Zum Trost herbeigeeilt Der Einzige, der normal spricht, ist ein Pfarrer, der mitten auf dem Domplatz mit seinem schwarzen Köfferchen steht und mit dem Handy telefoniert. Als er im Radio von dem Vorfall gehört habe, sei er ins Auto gesprungen und aus Weimar hierher gefahren, erzählt Pater Johannes. "Hier kann ich etwas tun." Wieder klingelt das Telefon. Ein Kollege bittet ihn, eine zweite Messe am Sonntag zu lesen. "Die Menschen brauchen den Trost." Erneut läutet es: "Ich muss zu einer Familie, die einen Seelsorger zum Zuhören brauchen", sagt Pater Johannes und eilt weiter. Die Stufen zum Dom sind mit Kerzen gesäumt. "Ich habe sie doch alle gekannt", sagt die 20-jährige Sabine Müller, die eine Rose mit schwarzer Schleife vor dem wuchtigen Gotteshaus ablegt. Vor zwei Jahren hat sie ihr Abitur am Gutenberg-Gymnasium gemacht, ihr 16-jähriger Bruder hat das Grauen aus nächster Nähe miterlebt. Der Lehrer habe die Tür geöffnet, als er draußen Lärm hörte. Kurz darauf sei er, von einem Kopfschuss getroffen, in das Klassenzimmer zurück-gefallen, habe ihr Bruder erzählt. "Seither spricht er nicht mehr. Er kapselt sich völlig ab. Ich glaube, so etwas bekommt man nie mehr aus dem Kopf." Margarete Bause drückt gerade einer älteren Dame einen Tulpenstrauß in die Hand. "Ist schon gut", sagt sie, als die Kundin die Geldtasche zückt. Als die tränenüberströmte Frau ihr Geschäft verlassen hat, sagt die Inhaberin nur: "Ihr Enkel." Der 15-Jährige hatte noch Schutz hinter einer Tür gesucht, als er von den Kugeln getroffen wurde. "Jeder kennt hier irgendjemanden oder ist selbst betroffen", fügt Frau Bause noch hinzu. "Dass unsere Stadt auf diese Weise bekannt wird, das hätte ich nicht für möglich gehalten." In jedem dritten Geschäft in der Fußgängerzone der Erfurter Altstadt hängt ein Zettel mit der gleichen Botschaft im Schaufenster: "Wegen Trauerfall geschlossen." Selbst die Geschäfte, die offen haben, sind leer. Im Jeansladen wurde die Musik abgestellt. "Es ist einfach unpassend", meint die Verkäuferin, die an einem Tisch lehnt. Unbeachteter Kanzler Unfassbar still ist es auch vor dem Rathaus, wo mindestens 50 Menschen darauf warten, sich ins Kondulenzbuch einzutragen. Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Frau Doris stellen sich am Samstag an. Keiner spricht sie an, sie werden nicht einmal besonders beachtet. Auf dem Boden vor der Rathaustür liegt in einem Blumenmeer ein Zettel mit einem Spruch, unter den Kinder ihren Vornamen gesetzt haben: "Der Strick ist gerissen. Er kann wieder gebunden werden, aber er bleibt gerissen." (DER STANDARD, Print, 29.4.2002)