"Generation 21. April" werden sie schon genannt - die Schüler und Studenten, die seit jenem Wahlsonntag in Frankreich, der erstmals seit Vichy einen Rechtsextremen in Reichweite des Präsidentenamtes gebracht hat, unermüdlich zum Protest aufrufen. Die Erklärung ist ganz einfach. "Schon allein, weil wir nicht wählen können", sagt Cyril, Jahrgang '84 und knapp vorbei am Wahlalter. Die anderen vor dem Lycée Saint-Charles, dem großen Gymnasium gleich hinter dem Hauptbahnhof von Marseille, stimmen zu. "Niemand hat das vorausgesehen. Die Medien haben immer Jospin als Sieger angekündigt.""Generation 21. April" klingt wie der Name einer Untergrundgruppe und ist doch nur ein buntes Etikett, das in diesen Tagen zwischen den beiden Durchgängen der französischen Präsidentschaftswahlen, wo schon nichts mehr unmöglich scheint, aufgeklebt wird. Der Versuch einer Art Wiedergutmachung ebenjener Zeitungen und Fernsehsender in Frankreich, die für die Sorglosigkeit der Wähler am ersten Wahlsonntag verantwortlich gemacht werden. Die neuen Helden Dabei war in Wirklichkeit die Zahl der Nichtwähler bei den Jugendlichen zwischen 18 und 24 besonders hoch - 37 Prozent von ihnen gaben am 21. April keine Stimme ab. Jetzt werden sie, die Jacques Chiracs Wahl zum Staatschef 1995 als Kinder erlebten und sich kaum an Mitterrands Sozialisten erinnern können ("Wir haben eine Schweigeminute in der Klasse gehabt am Tag, als er starb"), zu den neuen Helden der französischen Demokratie stilisiert. Am Nachmittag ist es wieder so weit. Dann soll Marseille, die große Hafenstadt im Süden Frankreichs, wo die Hassgefühle zwischen der solide verankerten Wählerschaft des Front National und der multikulturellen Linken von Parteien und Bürgerrechtsgruppen härter als anderswo im Land aufeinander prallen, seine größte Demonstration erleben. "Wir sind alle Kinder von Immigranten, die erste, die zweite, die dritte Ge-ne-ra-tion!", skandieren sie und: "F wie faschistisch, N wie Nazi, nieder! Nieder mit dem Front National!". Es sind die Schlachtgesänge der Neunzigerjahre, als Frankreichs Zivilgesellschaft massiv gegen die Wahlerfolge Le Pens, aber ebenso gegen die Ausländerpolitik der bürgerlichen Regierungen ankämpfte. Die Canebière, Marseilles großer Boulevard zum Alten Hafen hinunter, füllt sich schnell an diesem Wochenende. Die Gymnasiasten sind da mit den Transparenten ihrer Schulen - Saint Charles, Grand Montfort, Jean Perrin -, die Gewerkschaften, die Trotzkisten, die alten Anti-FN-Organisationen Mrap, SOS Racisme, Ras l'Front. 40.000 sollen es sein. Die Linksparteien des Premiers Jospin treten an, wie sie in der ersten Wahlrunde geschlagen wurden - hintereinander und jede für sich: die Kommunisten, die Grünen, die Sozialisten schließlich mit dem Präsidenten der Region Provence-Côte d'Azur, Michel Vauzelle, in ihrer Mitte, eine Rose in der hoch erhobenen Hand. An der Kreuzung zwischen der Canebière und der Cour St.-Louis steht Kamel, ein baumlanger Nordafrikaner, ein Beur, mit seinen Freunden und macht sich über den Protestmarsch lustig. "Zwei Drittel der Typen hier sind doch am Sonntag gar nicht zur Wahl gegangen, das ist doch klar", sagt er, "jetzt demonstrieren sie, aber jetzt ist es zu spät." Ein Lautsprecherwagen macht sich da selbstständig, denn bisweilen reißen große Lücken im Zug auf. "Motivé, motivé!", singt er, "wir sind motiviert, jeder soll es wissen!" - es klingt wie Hohn. "Es stimmt", sagt einer im Vorbeigehen. "15 Jahre demonstrieren wir gegen Le Pen und haben ihn nicht verhindert." (DER STANDARD, Print, 29.4.2002)