Je länger Jerusalem den Arbeitsbeginn der UNO-Kommission in Jenin hinauszuzögern trachtet, desto schlechter steht Israel in der Weltöffentlichkeit da. Wer verzögert, erweckt im- mer den Eindruck, etwas zu verbergen. In diesen Geruch geraten die jüngsten israelischen Versuche, Zeit zu gewinnen.Tatsächlich gab es zunächst höchst berechtigte Einwände: Ohne Spezialisten für die Aufklärung möglicher Hintergründe käme es nur zu einem "Leichenzählen". Und das, leicht nachzuvollziehen, würde der palästinensischen Seite nützen, die Ariel Sharon wegen der Ereignisse im palästinensischen Flüchtlingslager von Anfang an zu einem Kriegsverbrecher gestempelt hat. Die Zugeständnisse des UNO-Generalsekretärs Kofi Annan sollten die Bedenken der Israelis jedoch weitgehend ausgeräumt haben. Bewiesen ist derzeit überhaupt nichts. Weder Schuld noch Unschuld der israelischen Armee. Bereits die Ausgangslage ist kompliziert. Denn den Israelis steht keine Armee gegenüber, sondern eine Guerilla, zu deren Taktik es gehört, sich mit der Bevölkerung zu mischen. Das war spätestens seit Vietnam einer der Gründe, warum man sie nicht besiegen kann. Rechtlich würde Israels Armee nur dann Kriegsverbrechen begangen haben, wenn sie Zivilisten (oder verwundete Gegner) absichtlich nicht geschont hätte. Der springende Punkt aber ist, dass Israel die Beweislast trägt und nicht die Palästinenser. Vor dem unmittelbaren Arbeitsbeginn der UNO-Kommission ist daher ein enormer Beweisaufwand entstanden, der einen Teil der Verzögerungstaktik erklären würde. Erstaunlich ist, dass Israel und seine ausländischen Vertretungen in Krisensituationen zu schweren Fehlern neigen. Zwei Vorwürfe werden immer wieder als Totschlagargumente eingesetzt: 1. Wer Israel kritisiert, ist ein Antisemit. 2. Die Juden haben so viel durchgemacht, dass man sie nicht kritisieren darf. Beide - manchmal verkleidet formulierten - Behauptungen schwächen längerfristig die Glaubwürdigkeit der israelischen Positionen, obwohl die Militanz Ariel Sharons auch ziemlich abseitige Vergleiche provoziert. Jüngstes Beispiel: In einem profil-Interview sagt Irak-Besucher Jörg Haider, Sharon sei ebenso wie Milosevic ein Kriegsverbrecher und gehöre vor ein internationales Gericht. Israels Regierung wird sich dazu bequemen müssen, sich genauso wie andere Länder internationalen Regeln und Beschlüssen der UNO zu unterwerfen. Dazu kommt die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Nahostkonflikt weder durch blutigen Selbstmordterror (Palästinenser) noch durch massiven Armeeeinsatz (Israelis) zu lösen ist. Um diese Erkenntnis umzusetzen, bedarf es politischer Autoritäten. Die gibt es seit der Ermordung Yitzhak Rabins nicht mehr. Denn nur dieser große Mann Israels hat es Yassir Arafat ermöglicht, in seiner Aura vorübergehend zu einem Mann des Friedens zu wachsen. (DER STANDARD, Print, 29.4.2002)