Im Monat Mai erinnert Petersburg irgendwie an ein Auskunftsbüro, das keine Auskünfte erteilt" - Ossip Mandelstam (1891-1938) in Die ägyptische Briefmarke: "Man braucht nur ein dünnes Häutchen von der Petersburger Luft abzunehmen, und dann zeigt sich ihre verborgene Schicht. Die Mücke summt: Seht nur, was mir geschehen ist. Ich bin der Fürst des Unglücks." Jetzt müsste man wohl eine Meinung zu einem Unglück in Erfurt äußern. Aber manchmal ist es besser, "ein Auskunftsbüro, das keine Auskunft erteilt" zu sein: Die Welt, über der Mandelstams "Fürst des Unglücks" herrscht, ist komplizierter als die Medien, die kurz einen neuen Gesprächsstoff gefunden haben, für simple Berichte und Talkshows. Zum Beispiel Mekka: Dort brannte eine Schule. Fliehende Mädchen wurden von der Religionspolizei in das Feuer zurückgetrieben, weil sie keine Schleier trugen. Fünfzehn Mädchen verbrannten. Der Unterschied zu Erfurt: kein unglücklicher Einzeltäter, sondern staatlich-religiöse Gewalt, die nie nach dem Glück oder Unglück von Einzelnen fragt. Dafür aber dort das Auftauchen von wirklich kritischen Medien, die am Fall der verbrannten Schülerinnen die Brutalität von Gesetzen zur Sprache bringen, denen sie selbst ausgeliefert sind. Jedem sein Mekka. Aber wer in Mekka landet oder von dort herkommt, hat keine Wahl, ob mit oder ohne Reise. Es ist auch weit weg. Wegschauen ist - nicht nur, aber deutlich in Wien - die kaum verdeckte und brutale Bedingung des Hinschauens, des Zuschauens: Hahnenkämpfe, Hunderennen, Videospiele. Erfurt wird einem auf den Leib gerückt, Mekka aber bleibt erstaunlich fern: Ist nicht mehr relevant, was dort spielt? "Des spüln s' bei uns eh net" - dafür aber in den Kinos die hiesigen Gewaltspiele: Operation Punschkrapferl oder Bellaria: Solange wir leben . Die Reise geht um 18.15 Uhr im Actor's Studio sogar nach Kandahar, aber nicht nach Mekka. Das hat es schwerer, es kann sich nicht aus dem Schatten des eigenen Anspruchs lösen, selbst wenn dieser absurd erscheint. In der brennenden Schule in Mekka bestätigte sich eine alte Identifikation: Schleier und Frauen, männliche Gewalt und Ausgeliefertsein. Zum Unterschied von Erfurt blieb diese Nachricht am Rand, keine Talkshow, keine Psychotherapieangebote für die Angehörigen. Mekka wird sicher Mekka bleiben, wie Wien Wien bleibt - oder doch nicht ganz so? Die Mädchen sind verbrannt, das Feuer ist gelöscht, Staub liegt über jeder Erinnerung. Aber schon Mandelstams Prosa verweigert sich dem "Staub bist du, und zu Staub sollst du werden": Ossip Mandelstam, wenige Jahre vor seiner Deportation: "Mein Gedächtnis ist der Vergangenheit nicht freundlich, sondern feindlich gesinnt und arbeitet nicht an der Reproduktion der Vergangenheit, sondern an ihrer Beseitigung." - Ich erinnere mich an einen strafenden Satz vor sehr langer Zeit: "Dann lassen wir die Jause." Lassen wir auch die Erfurt-Jause. Außer: Eines der toten Mädchen aus Mekka tauchte gegen alle Erwartungen wieder aus dem Feuer und nähme - sicher ohne jedes Medieninteresse - kurz daran teil.
Die nächste "Unglaubwürdige Reise" wird am nächsten Freitag angetreten.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3. 5. 2002)