Paris - Beflügelt vom Ausmaß der Maidemonstrationen gegen den rechtsextremen Front National und seinen Parteichef Jean-Marie Le Pen haben in Frankreich die Spekulationen über eine neue Regierung der Bürgerlichen um sich gegriffen. Staatspräsident Jacques Chirac ist sich seiner Wiederwahl am Sonntag sicher und denkt offenbar an die Bildung einer neuen Regierung noch am folgenden Tag. Als aussichtsreichster Kandidat für das Amt des Premiers wurde am Donnerstag der 47-jährige Gaullist Nicolas Sarkozy genannt, Exminister der letzten konservativen Regierung von Alain Juppé (1995 - 1997) und ehemaliger Chef der Gaullistenpartei RPR.Warnung vor reiner Rechtsregierung Der amtierende Regierungschef, der Sozialist Lionel Jospin, hatte seinen Rücktritt nach dem Ende der Präsidentschaftswahlen am Sonntag angekündigt. Vertreter des linken Lagers, die zur Wahl Chiracs aufriefen, aber auch Politiker aus den Reihen der Bürgerlichen warnten am Donnerstag bereits vor einer reinen Rechtsregierung. Der frühere Forschungsminister und Gaullist François Fillon appellierte an den Staatschef, nach den Wahlen eine "Politik des Konsenses" zu verfolgen. Fillon gilt neben dem Rechtsliberalen Jean-Pierre Raffarin selbst als Premierskandidat. Chirac hat während seines Wahlkampfes mehrfach die Berufung eines "Ministers für die Sicherheit" noch am 6. Mai, dem Tag nach der Stichwahl, angekündigt. Front National: Der Abmarsch in die Defensive Jean-Marie Le Pen haben die Massenproteste in Frankreich kalt gelassen. "Ich höre auf die Wähler, ich höre nicht auf Demonstranten", sagte der Chef des rechtsextremen Front National am Tag nach den Maiumzügen, bei denen am Ende mehr als eine Million Franzosen auf die Straße gingen. Doch politische Beobachter hatten am Donnerstag den Eindruck, dass das Ausmaß der Proteste den FN sehr wohl empfindlich traf. Einzelne Provinzstädte wie Grenoble hatten seit dem Krieg keine solchen Aufläufe mehr erlebt. Demgegenüber trommelte der Front National in Paris nur gerade 10.000 Sympathisanten aus ganz Frankreich zusammen. Dies mag nun viele Bürger überzeugt haben, dass Le Pen am Sonntag keine ernsthaften Wahlchancen hat. Plötzlich Parteieintritte "La France est quand-même la reine des fromages" - Frankreich ist wirklich Meisterin im Anrichten eines Schlamassels", schrieb am Pariser 1.-Mai-Umzug eine unbekannte Hand mit Kreide auf den Boulevard-Asphalt. Doch wie üblich siegt in Frankreich nach dem Chaos die Vernunft. Die massive Replik der Straße, so scheint es, zeigt, dass die "republikanischen" Reflexe in Frankreich noch funktionieren und sich die Leute notfalls durchaus wieder für die Politik zu interessieren beginnen. Allein beim Parti Socialiste haben sich nach dem Le-Pen-Schock gerüchteweise über zehntausend Neumitglieder eingeschrieben. Die bürgerlichen Parteien wittern ohnehin Morgenluft im Hinblick auf die Parlamentswahlen im Juni. Unter dem Druck der Le-Pen-Kandidatur am Sonntag sprechen Frankreichs große politische Gruppierungen erstmals wieder miteinander. Paradoxerweise dürfte sich die politische Landschaft Frankreichs in den nächsten Monaten aber eher polarisieren. "Die politische Mitte ist tot", sagte ein Redner bei einer parteiübergreifenden Versammlung der "republikanischen Kräfte". Der alte Rechts-links-Gegensatz werde zurückkehren. Die Linke habe eingesehen, dass sie sich zu stark "verbürgerlicht" und die Probleme der Proletarier - die gibt es in Frankreich durchaus noch - aus den Augen verloren habe, meinte ein Vertreter der "gauche socialiste" bei dem Treffen. Als Folge sei der Front National heute die wichtigste Arbeiterpartei; dieses Terrain gelte es nun zurückzugewinnen. Spekulationen Kalkuliert wird vor allem aber im Elysée-Palast. Drei Tage vor der Stichwahl haben die Spekulationen über die neue französische Regierung begonnen. Schließlich hatte der geschlagene Premier Lionel Jospin noch am Abend des ersten Durchgangs der Präsidentschaftswahlen seinen Rücktritt für den 6. Mai bekannt gegeben. Sollte Chirac am Sonntag wiedergewählt werden, hätte er nun verschiedene Optionen: Der Präsident könnte theoretisch die Linksregierung mit einem neuen Premier bis zu den Parlamentswahlen weiter im Amt belassen; denkbar wäre auch die Bildung einer neutralen Übergangsregierung mit politisch wenig hervorragenden Figuren; Chirac könnte aber auch gestärkt durch seine Wiederwahl eine Rechtsregierung nach seinem Geschmack aufstellen - das Parlament, in dem der Präsident ohne Mehrheit ist, hat die Legislaturperiode bereits abgeschlossen. Premierskandidaten Wie sich Chirac entscheidet, hänge von der Höhe seines Wahlsiegs ab, sagen Beobachter. Schlägt er Le Pen vernichtend, könne sich der Präsident eine Öffnung zur Mitte erlauben. Gewerkschaftschefin Nicole Notat hält eine Rechtsregierung für "nicht gerechtfertigt". Jean-Pierre Raffarin von der rechtsliberalen Démocratie libérale, der das Ohr Chiracs hat, und der frühere Gaullistenchef Nicolas Sarkozy halten sich jedoch bereit. (DER STANDARD Print-Ausgabe, 3.5.2002)