New York/Wien - Neue Hoffnung für neurodegenerative Krankheiten wie multiple Sklerose kommt ausgerechnet vom Lepra-Erreger. Denn Zellbiologen der Rockefeller und der New York University konnten beobachten, wie das Mycobacterium leprae Nervenschäden verursacht: Der Erreger provoziert nicht, wie bisher angenommen, eine Immunreaktion, die die Nerven attackiert, sondern er greift selbst an (Science Vol. 296, S. 927)."Damit", sagt Anura Rambukkana vom Forschungsteam zum STANDARD, "haben wir das Myelin-Dogma gebrochen". Bisher meinte man, diese Substanz der Schutzhülle der Neuronen, werde durch eine Immunreaktion beschädigt. Doch nun zeigten sich auch an Versuchsmäusen ohne Immunzellen solche Schäden - verursacht vom Bakterium selbst. "Ich glaube, dass das eine Überlebensstrategie des Lepra-Erregers im Nervensystem ist", kommentiert Rambukkana. Die Heimtücke dabei: Beschädigte Nerven mobilisieren neue Zellen zur Wiederherstellung, doch die sind ohne Myelin-Hülle und werden so zur "bevorzugten Nische für das Bakterium" (Rambukkana). Hier vermehrt es sich, um nach einiger Zeit wieder anzugreifen, was die Schübe der Krankheit erklären könnte. Gesichert ist: Mit der Attacke auf die isolierende Schutzschicht der Neuronen unterbricht der Erreger wichtige Nervenverbindungen, über die rasche Signale vom Gehirn zu Organen wie der Haut oder zu Muskeln laufen. Mit verheerenden Folgen: Finger, Zehen, Gliedmaßen werden dumpf, schwerwiegende Verstümmelungen können folgen, ebenso lebenslange Behinderungen. Das Leiden ist behandelbar, Früherkennung aufgrund der langen Zeit zwischen Infektion und Ausbruch besonders wichtig. Die Realität sieht aber vielerorts noch anders aus: Soziale Diskriminierung und Ausstoßung treffen die offensichtlich Kranken. Jährlich erkranken zwar viel weniger Personen als noch vor zehn Jahren, aber im Vorjahr waren es nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation immer noch knapp 600.000. Hauptbetroffen sind Südostasien, Teile Südamerikas und Afrikas. Von den 122 Staaten, in denen die Infektionskrankheit noch 1985 verbreitet war, wurde sie in 107 praktisch ausgerottet. Nun, da man eine wichtige biochemische Arbeitsweise des Bakteriums kennt, hofft man auf verbesserte Diagnose und neue Therapeutika. Die Hoffnungen von Anura Rambukkana gehen aber noch weiter: "Der neue Mechanismus könnte uns Hinweise auf frühe molekulare Ereignisse bei anderen, wenig durchschauten neurodegenerativen Krankheiten wie multipler Sklerose geben." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.5.2002)