Nach der Überraschung des ersten Durchgangs der französischen Präsidentschaftswahlen wagt niemand eine Prognose. Zumindest aber eine Analyse der Strategien gegen Le Pen tut not, meint der Publizist Dominique Vidal.Wie auch immer der 5. Mai ausgehen wird, der Aufstieg der extremen Rechten ist der Beweis für ein strukturelles, nicht für ein konjunkturelles Phänomen. Es ist der direkte Ausdruck der Unzufriedenheit eines Teils der unteren Bevölkerungsschichten, aber auch der Mittelschicht, welche die nicht eingehaltenen Versprechen von Jacques Chirac (der 1995 zum Präsidenten gewählt wurde, weil er "die sozialen Brüche ausgleichen" wollte) und Lionel Jospin (der 1997 mit dem Slogan "Für ein gerechteres Frankreich" Premierminister wurde) einfach nur noch langweilten. Diese Bitterkeit, die Enttäuschungen durch die Rechte wie auch durch die Linke fanden ihren Ausdruck: und zwar einerseits in Stimmenthaltungen (28,4 Prozent der Wahlberechtigten), andererseits indem für die extreme Rechte votiert wurde; und ein Teil hat für die Kandidaten der Kommunistischen Partei oder der Extremen Linken gestimmt. Es handelt sich nicht, wie manche Beobachter meinen, um "eine Renaissance des Faschismus": Denn jene Randgruppen, die sich auf eine Vergangenheit mit Mussolini oder Hitler beriefen, wurden alle verdrängt. Die Bewegung ist im Gegenteil neu - sie vereinen einen absoluten Autoritätsanspruch, Ultraliberalismus, soziale Demagogie und Fremdenfeindlichkeit, aber sie akzeptieren ausdrücklich die demokratischen Spielregeln - und fahren immer größere Wahlerfolge ein. Im Zuge der französischen Wahlkampagne war viel von Sicherheit die Rede. Der scheidende Präsident hat die Debatte darüber zu seinem wichtigsten Wahlkampfthema gemacht. Es reicht aus, die Motive der Wähler Jean-Marie Le Pens und der Nichtwähler zu ergründen, um zu erkennen, dass Sicherheit im polizeilichen Sinn des Wortes untrennbar mit jener sozialen Unsicherheit verknüpft ist, in der Millionen von Franzosen leben: Arbeitslosigkeit, die prekäre Lage, Ausschluss aus der Gesellschaft, Armut, Ungleichheit, Sinken der Kaufkraft. Ohne diesen Nährboden hätte weder die Sicherheitsdiskussion noch die Zuwanderungsdebatte des Front National einen derartigen Zuspruch erhalten. Eine antifaschistische Mobilisierung in letzter Sekunde, so notwendig sie auch war, reichte daher nicht aus, um mit dem Phänomen fertig zu werden. Wenn eine tatsächliche tiefgreifende Wende zu einer politischen Alternative fehlt, kann sich die Strömung einfach nur ausweiten, in Frankreich wie auch im übrigen Europa. Um das umzukehren, muss Jean-Marie Le Pen beim zweiten Durchgang zuerst nicht nur gestoppt werden, sondern sein Ergebnis auch auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt sein, damit sein Einfluss auf die Regierungsbildung, die nach den Parlamentswahlen am 9. und 16. Juni stattfinden wird, so gering wie möglich bleibt. Selbst wenn sich die Dinge so entwickeln sollten, kann der Aufschwung der extremen Rechten aber nur dann dauerhaft eingedämmt werden, wenn sich die Politik auf einen liberalen Konsens festlegt. Die Herausforderung gilt in erster Linie der Linken. Um das Vertrauen des Wahlvolkes zurückzugewinnen, muss sie jene politische Entwicklung stoppen, die 1983 begann, als die damalige Unionsregierung erstmals eine so genannte "politique de rigueur" machte, d. h. den Sparstift ansetzte und harte Maßnahmen setzte. Aber kann sie das? Die Antwort hängt in erster Linie von der Sozialistischen Partei (PS) ab, die mit 16,18 Prozent der Stimmen wohl das erste Opfer des Wahlgangs vom 21. April war. Natürlich kann sich Lionel Jospin nach den letzten fünf Jahren mit einigen Erfolgen brüsten. Aber die machen in den Augen der Ärmsten der Gesellschaft den Niedergang ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen bei weitem nicht wett. Wenn man dieser Tage bestimmten Führungspersönlichkeiten der PS zuhört, die den Wählern vorwerfen, ihre Errungenschaften zu verkennen, erinnert das an Bert Brecht, der der DDR-Regierung riet, das Volk aufzulösen ... Doch nichts deutet im Augenblick darauf hin, dass die Sozialistische Partei erkennt, wie sie diesem Misstrauen der Bürger entgegenwirken könnte und eine grundlegende Wendung vollziehen soll, womöglich mit Selbstkritik statt Selbstgefälligkeit. In jedem Fall streicht dieser sozialdemokratische Autismus die Rolle hervor, die "der Linken unter den Linksgerichteten" zufällt. Denn jene ist aus dem Wahlgang am 21. April gestärkthervorgegangen: Zählt man die Stimmen zusammen, welche die Kandidaten der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), der beiden trotzkistischen Bewegungen und der Grünen erhalten haben, sind das mehr als 19 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Aber diese Kraft bleibt zersplittert, gelähmt durch Teilungen, die in einer lange abgeschlossenen Vergangenheit stattgefunden haben. Für die PCF, die wieder einen Einbruch erlebte (ein Sechstel der Stimmen, die sie vor 25 Jahren hatten!), würde ein Alleingang das sichere Aus bedeuten. Die Grünen wiederum haben ihren Diskurs spürbar radikalisiert. Und die trotzkistischen Bewegungen wären die einzigen, die aus diesem Vorsprung Kapital schlagen könnten. Die Strömungen sollten sich zusammentun, damit sie in Verbindung mit der Antiglobalisierungsbewegung die Bildung der nächsten Regierung, wie auch immer deren Zusammensetzung und Richtung sein wird, stärker beeinflussen können. Aber abgesehen von diesen strukturellen Problemen hat man auf die wichtigste Frage, die der Linken in Frankreich wie auch im übrigen Europa gestellt wird, bis heute noch immer keine Antwort gefunden: Wie sieht heutzutage ein sowohl reformistisches als auch radikales Gesellschaftsmodell aus, das es allen - beginnend mit den Wohlstandsverlierern - möglich macht, vom Fortschritt zu profitieren? Nachdem die Wahlen zur Präsidentschaft und zum Parlament geschlagen sind, wird der Schlüssel für die Zukunft ohne Zweifel dort zu finden sein: in der Fähigkeit der linken "Erneuerer", die Debatte über die neue Demokratie wieder aufleben zu lassen, Perspektiven zu entwickeln, die der aktuellen gesellschaftlichen Realität entspringen, und die Kräfte neu zu strukturieren. Sollte dies nicht gelingen, wird der gute Willen aller Antifaschisten dieser Erde beim nächsten Mal nicht verhindern können, dass die Ergebnisse für eine sich demokratisch gebende extreme Rechte nicht nur die Alarmglocken klingeln lassen, sondern auch das Ende der Demokratie einläuten. (Dominique Vidal ist Mitglied der Chefredaktion von Le Monde diplomatique. Übersetzung: Luzia Schrampf, DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 4./5.5.2002)