Im Vorfrühling des Jahres 1896 veranstaltete die École biblique der Dominikaner in Jerusalem eine sechswöchige Exkursion zum Roten Meer und nach Ägypten. Einer der Teilnehmer an dieser Studienreise auf den Spuren des Exodus war der siebenundzwanzigjährige Alois Musil aus Richtersdorf bei Wischau (Rychtáíov u Vyókova) in Mähren. Ganz im Stil eines anspruchslosen Durchschnittstouristen berichtet der Vetter zweiten Grades des Dichters Robert Musil seinen Eltern auf einer Ansichtskarte aus Kairo, dass es am Roten Meer "sehr schön" gewesen sei, dass er die Pyramiden bestiegen habe und es ihm in Ägypten "sehr gut" gehe. Dennoch sollte es die letzte Gruppenreise des ambitionierten jungen Priesters bleiben. Mit derselben Unbeirrbarkeit, mit der Alois Musil gegen den Willen seiner bäuerlichen Eltern das Gymnasium absolviert und in Olmütz Theologie studiert hatte, hatte er neben der unersprießlichen Tätigkeit als Religionslehrer in Mährisch-Ostrau und Brünn eine Dissertation verfasst und dadurch ein Forschungsstipendium für das Heilige Land erhalten. Als er in Jerusalem erkannte, dass ihm die erst wenige Jahre zuvor gegründete École biblique die erhoffte Ausbildung nicht zu bieten vermochte, nahm er unverzüglich privaten Sprachunterricht und fand bereits in seinen ersten Sommerferien im Heiligen Land die ihm gemäße Form des Forschens: Zunächst lebte er einige Zeit bei einem Bauern, um sich mit dessen Lebensweise vertraut zu machen. Danach unternahm er ungeachtet der gewaltigen Sommerhitze mit Einheimischen von Madaba und Kerak aus zahlreiche kleinere Touren, deren Verlauf er von Anfang an minutiös dokumentierte. Den Höhepunkt dieses Sommers bildete ein viertägiger Aufenthalt in der damals erst in Ansätzen erforschten Ruinenstadt Petra. Schritt für Schritt erarbeitete sich Musil in diesen Wochen einen wesentlichen Teil jener Kenntnisse, die ihm die großen Forschungsreisen der nächsten beiden Jahrzehnte erst ermöglichten. Auf der zweiten Reise, die ihn nach dem Wechsel an die Jesuitenuniversität St. Joseph in Beirut im Frühsommer 1897 von Gaza bis hinauf nach Palmyra führte, fasste er den Entschluss, sich vorerst auf die seit Ptolemäus "Arabia Petraea" genannten Gebiete östlich und südlich des Toten Meeres zu beschränken, "dieses Gebiet in verschiedenen Richtungen zu durchkreuzen, es topographisch genau zu beschreiben, die daselbst vorhandenen Ruinen zu identifizieren, die Inschriften zu kopieren, insbesondere aber die dort hausenden Stämme und Sippen, sowie deren Sitten und Gebräuche kennen zu lernen". Nach insgesamt sechs mehrmonatigen Reisen hatte Musil im November 1902 das gesteckte Ziel erreicht. Zunächst berichtete er nur in einigen kleineren Abhandlungen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, die seine Forschungsreisen seit 1898 hauptsächlich finanzierte, über die aufsehenerregende Entdeckung omaijadischer Wüstenschlösser östlich der Pilgerstraße. Mehr noch als durch die Lehrtätigkeit an der Katholisch-theologischen Fakultät in Olmütz zog sich die Ausarbeitung des gewaltigen Materials, das er auf den Reisen durch Arabia Petraea gesammelt hatte, durch sein kompromissloses Streben nach höchstmöglicher Perfektion über Jahre hin. Erst 1907 und 1908 konnte er in der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften unter dem Titel Arabia Petraea die Summe der ersten Periode seines Forscherlebens veröffentlichen. Mit dem Untertitel Topographischer Reisebericht hat Musil herausgestellt, dass er in dem mehr als 1600 Seiten umfassenden dreibändigen Werk ausschließlich selbst Gesehenes beschreiben wollte. Nur die Einleitungen zu den ersten beiden Bänden sowie der dritte Band, der die ethnografischen Ergebnisse zusammenfasst, verzichten auf die subjektive Perspektive. Die chronologisch geordneten Tourenbeschreibungen, die den Hauptteil des Werkes ausmachen, beginnen stets mit einer Darlegung des Forschungszieles und genauen Angaben über Begleiter und Ausrüstung. Der Verlauf der einzelnen Touren wird meist nur in wenigen Worten geschildert, die topografischen und historischen Gegebenheiten hingegen werden aufs Genaueste beschrieben. Jeder Abschnitt schließt mit einer Bewertung der Ergebnisse der jeweiligen Reise. Die mit Plänen und Skizzen von außerordentlicher Qualität versehenen, präzise datierten Beschreibungen und die mehr als fünfhundert Fotografien boten zur Erscheinungszeit des Werkes das erste gleichermaßen umfassende wie detaillierte Bild damals in Europa erstaunlicherweise noch kaum bekannter Gebiete. Aus heutiger Sicht sind Musils Beschreibungen und Aufnahmen längst zerstörter Bauwerke und archaischer Lebensformen vor dem Einbruch der modernen Zivilisation eine Dokumentation von unschätzbarem kulturhistorischem Wert. Die Ausgewogenheit der Beschreibungen, die Genauigkeit der Karten, Pläne und Skizzen und insbesondere auch der staunenswerte Kommentar, in dem Musil nach der Methode des Geografen Wilhelm Tomaschek die in antiken und orientalischen Quellen enthaltenen Informationen zu den von ihm besuchten Orten im originalen Wortlaut zusammenstellte, machen Anspruch und Rang dieses unvergleichlichen Werkes deutlich. Eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur hielt Musil freilich für entbehrenswert. Zu einem wesentlichen Teil beruht die Einzigartigkeit des trotz aller Gelehrsamkeit einfach und lebendig geschriebenen Werkes auf der Vielfalt der behandelten Themen und Gegenstände. Der interdisziplinäre Forschungsansatz hat allerdings dazu geführt, dass der Arabienforscher Musil auch heute noch einmal dieser, einmal jener Wissenschaftsdisziplin zugeordnet wird. Den Ausgangspunkt und Antrieb seiner vielfältigen Forschungen bildeten seinen eigenen Worten zufolge aber weder geografische noch historische Interessen, sondern das Bestreben, "das Fühlen und Denken und die Lebensweise der heutigen Bewohner" Nordarabiens genau zu studieren. Musil war nämlich davon überzeugt, bei den Beduinenstämmen auch an der Wende zum 20. Jahrhundert die Lebensverhältnisse der biblischen Zeiten weitgehend unverändert wiederzufinden und aus ihnen die Entstehung des Monotheismus erklären zu können. Daher war sein kühner Entschluss, sich in den Stammesverband der Beni Sachr aufnehmen zu lassen und das Leben eines Beduinen zu führen, für ihn nicht nur die Voraussetzung dafür, in unerforschte Gebiete vordringen zu können, sondern vor allem auch die einzige Möglichkeit, die archaische Lebensweise der Beduinen durch teilnehmende Beobachtung von Grund auf kennen und verstehen zu lernen. Das Ausmaß der Integration Musils in die beduinische Gesellschaft zeigt sich insbesondere auch darin, dass der nachmalige päpstliche Hausprälat und kaiserliche Oberkriegsrat im März 1907 vom Fürsten an-Nuri ibn Schaalan vor allen Häuptlingen der Ruala zum Oberhäuptling ernannt wurde. Damit eröffneten sich für ihn im zweiten Jahrzehnt seiner Arabienaufenthalte einzigartige Möglichkeiten zur Erforschung der Stammeskultur der Ruala und der Wüstengebiete Innerarabiens aber auch für seine nicht unumstrittenen politischen Aktivitäten. Wie gefährlich die temporäre Verwandlung in ein Stammesmitglied der Beni Sachr oder der Ruala war, ist trotz der zurückhaltenden Art seiner Schilderungen zahlreichen Stellen in Arabia Petraea und den späteren Werken zu entnehmen. Bereits die Entdeckung und Erforschung der omaijadischen Wüstenschlösser, die Musil von einem Tag zum andern bekannt machte, zeigt jene singuläre Verbindung planmäßig organisierten Forschens mit einer höchst eigentümlichen Freude am Abenteuer, von der sein gesamtes wissenschaftliches Werk getragen wird. Schon im August 1896 hatte Musil in Madaba von verwunschenen Schlössern in der Wüste gehört. Seine Nachforschungen in der Universitätsbibliothek in Beirut ergaben allerdings nur, dass einige wenige Forscher vor ihm ebenfalls davon gehört hatten. Erst am 8. Juni 1898 gelang ihm - nach einer klug geplanten Flucht aus türkischer Gefangenschaft - als Teilnehmer an einem Raubzug der Beni Sachr ein kurzer Abstecher zum omaijadischen Wüstenschloss Amra. Er scheint dessen überragende Bedeutung für die Frühgeschichte der islamischen Kunst sofort erkannt zu haben. Doch bevor er noch eine Aufnahme der über und über mit Bildern geschmückten Innenräume machen konnte, musste er sich mit seinem einzigen Begleiter vor feindlichen Beduinen in Sicherheit bringen. Die permanenten Raubzüge und Stammeskriege hielten ihn freilich nicht davon ab, Kuseir Amra in den darauffolgenden Jahren mehrmals aufzusuchen und aufs Gründlichste zu erforschen. Gewiss waren nicht alle Unternehmungen Musils im Orient so gefährlich wie die ersten Besuche in Kuseir Amra und den anderen Wüstenschlössern. Aber Gefangennahme, Flucht, Beraubung und Teilnahme an Kämpfen waren Konstanten seiner Jahre in Arabien. Die vornehme Zurückhaltung, mit der er die abenteuerlichen Umstände und Voraussetzungen seiner Orientforschungen in einfacher Sprache beschreibt, hat einem so gelehrten und monumentalen Werk wie Arabia Petraea eine Frische und Lebendigkeit bewahrt, die aufs Pathetische und Spektakuläre hin angelegten Reiseberichten durchwegs fehlt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4. /5. 5. 2002)