Staat & Justiz
Gegen "Experimentierspielraum"
Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer kritisiert Verlegung des Jugendgerichtshofes
Wien - Gegen die Schließung des Wiener Jugendgerichtshofes
(JGH) spricht sich der neue Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer,
Harald Bisanz, aus. "Gerade im Zusammenhang mit Jugendlichen darf es
überhaupt keinen Experimentierspielraum geben". Wie im Schulsystem
sollten nur "jahrelang ausgegorene" Vorschläge umgesetzt werden,
wandte sich Bisanz gegen den überraschend
bekannt gegebenen Plan des Justizministers. Auch das "Wie" bemängelt der neue Wiener Anwälte-Präsident: "Das
geht mit meiner Einstellung als Anwalt, dass alles zu besprechen und
zu verhandeln ist, keinesfalls konform", meint er zur Tatsache, dass
der Minister vor dem Grundsatzbeschluss im Ministerrat nicht mit
Betroffenen, Standesvertretung oder Experten sprach.
"Gefahr, dass Standortverlegung Spuren hinterläßt"
Das Argument, dass es sich bei der Verlagerung der Agenden an das
Landesgericht für Strafsachen nur um eine "Standortverlegung" handle,
stellt Bisanz in Frage: "Ich sehe bei allem Verständnis für Synergie-
und Einsparungsstreben die Gefahr, dass die Standortverlegung an
dieser hoch bewährten Einrichtung doch schwere Spuren hinterlässt."
Es habe Sinn, wenn Gericht und Strafanstalten für Jugendliche und
Erwachsene räumlich deutlich getrennt sind. Dies habe sich auch in
den "extrem geringen" Rückfallsquoten jugendlicher Straffälliger in
Wien bewiesen.
Die Bedeutung des JGH könne, so Bisanz, nicht hoch genug geschätzt
werden: "Hier werden Weichen für Menschenschicksale gestellt."
Schließlich würde Jugendlichen und ihren Familien meist erst vor
Gericht klar, dass "etwas Fürchterliches passiert ist und nicht nur
eine 'Blödheit'". "Dort werden sie erstmals mit der Maschinerie, die
der Staat Unrechtshandlungen entgegensetzen muss, konfrontiert. Da
ist es besonders wichtig, dass ihnen bestens geschulte Richter,
Staatsanwälte, ein gut eingespielter Appart entgegentritt."
Stärkere Positionierung der Anwaltschaft in der Öffentlichkeit
Bisanz wurde vor Kurzem überraschend als Gegenkandidat des
bisherigen Präsidenten Peter Knirsch gewählt. Als Schwerpunkte seiner
Tätigkeit nennt er die "Harmonisierung" der Länderkammern, den Ausbau
der Kammer als Serviceeinrichtung, die Verankerung der Fortbildung
als Berufspflicht - samt "Berufsethik und Zivilcourage" als
Ausbildungsgegenstand - und eine stärkere Positionierung der
Anwaltschaft in der Öffentlichkeit.
Dafür ist, so Bisanz, allerdings erforderlich, dass alle neun
Landeskammern "mit einer Stimme sprechen". Sein Ziel ist, die
früheren Spannungen zwischen Wien und den Ländern auszuräumen.
"Absolut notwendig" seien natürlich auch "Strukturänderungen" in der
Organisation; über Details will er erst innerhalb der Kammern
sprechen.
Schlüsselwort "Modernisierung"
"Modernisierung" ist für Bisanz ein Schlüsselwort. In diesem Sinn
will er - angesichts der eigenen Erfahrungen - längerfristig den
Wahlmodus ändern. Derzeit ist laut Gesetz nur persönliche Stimmabgabe
bei der Vollversammlung möglich, keine Brief- oder Internetwahl,
keine Wahllokale, wo man etwa über einen Tag lang wählen könnte. So
kamen bisher meist nur 200 bis 300 der 1.700 Anwälte zur
Präsidenten-Wahl. Bisanz gelang es, viele Kollegen zu "mobilisieren";
fast 900 kamen heuer. Die Zwei-Drittel-Mehrheit für ihn sieht er
"auch als Signal gegen das derzeitige System". Schon mit seiner
Kandidatur ist er gegen die Tradition aufgetreten, dass es bei
Wiederkandidatur des amtierenden Präsident keinen Gegenkandidaten
gibt. Eine "echte, demokratische Wahl" ist für ihn
selbstverständlich, "ich wünsche mir schon beim nächsten Antreten
einen Herausforderer". (APA)