Österreich
Versuch der Alltagsherstellung in Erfurt
SchülerInnen nehmen Unterricht wieder auf
Erfurt - "Es muss weitergehen", sagt die 14-jährige
Juliane. Der zehnte Tag nach dem Massaker: Nach einer Zeit, in der
sie sich wieder und wieder am Schulportal mit dem Blumenmeer für die
Todesopfer trafen, tasten sich Schüler- und LehrerInnen des Erfurter
Gutenberg-Gymnasiums in den Alltag zurück. "Wenigstens weinen jetzt
nicht mehr alle", sagt die 13-jährige Saskia aus der siebenten Klasse
nach dem ersten Schultag am Montag. Sie ist froh, dass sie wieder
einen Fixpunkt hat: "Damit wir nicht so durch den Tag irren."Bewachte Ersatzschule
Von Normalität nach dem Albtraum sind die fast 700 Kinder und
Jugendlichen noch weit entfernt. Ein privater Wachschutz schirmt die
Ersatzschule ab und achtet unter den Augen des Schulverwaltungsamtes
darauf, dass nur SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen das Gelände betreten.
Mirko aus der siebenten Klasse schaut eher bedrückt auf das Gebäude
im typischen DDR-Plattenbaustil. "So richtig ist mir noch nicht
wieder nach Unterricht", sagt der Schüler leise.
"Herzlich willkommen", steht auf einer Tafel von SchülerInnen der
Grund- und Regelschule. Hier werden die Schüler so lange
unterrichtet, bis an ihrem Gymnasium voraussichtlich bis zum Beginn
des neuen Schuljahres im August die Spuren der Bluttat mit 17 Toten
verschwunden sind. Für viele steht fest: "Wir wollen in unsere Schule
zurück."
Kinder aus den unteren Klassen werden an diesem regnerischen
Morgen von ihren Eltern begleitet. "Es ist gut, dass die Schule
wieder losgeht", sagt Monika Hofmann, die ihren elfjährigen Sohn Mike
zum Schultor bringt. "Die Kinder brauchen wieder einen festen
Rhythmus, Normalität." Der Fünftklässler antwortet derweil den
Fernsehreportern vor der Schule. Drinnen geht es um Mathematik,
Deutsch, Englisch - in manchen Klassen ist das aber nur ein
Randthema.
Spiele und psychologische Betreuung
"Wir haben Spiele gemacht, damit wir abgelenkt werden, aber es
ging gar nicht", sagt Juliane. Sie gehört zur Klasse 8 c, die ihre
Mitschüler Ronny (15) und Susann (14) durch Schüsse des 19-jährigen
Robert Steinhäuser verlor. "Ich habe geweint. Es ist komisch, wenn
die zwei nicht da sind." In allen Klassen begleiten PsychologInnen den
Unterricht und bieten Gespräche an. Einige SchülerInnen malen, andere
reden über die Bluttat oder die Trauerfeier. "Nach der Trauer in den
Alltag zu gehen, ist ein bisschen komisch", sagt Anne aus der fünften
Klasse. "Es war ein Kribbeln im Bauch. Man hat Angst gekriegt, dass
es wieder normal wird."
Die Gutenberg-SchülerInnen haben erst einmal nur vier Stunden
Unterricht. An den Glastüren am Schulhaus hängen Notunterrichtspläne.
Weil fast ein Viertel des Lehrerkollegiums nicht mehr lebt, helfen 60
PädagogInnen aus Thüringen und zehn aus Mainz, der Partnerstadt Erfurts.
"Wir haben jetzt zwei Lehrer und einen Psychologen pro Klasse", sagt
ein Mädchen. Einige Gutenberg-Lehrer fehlen an diesem ersten
Unterrichtstag, weil sie noch nicht die Kraft finden oder auf
Beerdigungen von Kollegen sind. "Unsere Klassenlehrerin konnte es
nicht verkraften", sagt der 13-jährige Georg. Die 80 Schüler der 12.
Klasse fehlen. Für sie laufen die Gespräche über ihr Abitur. (APA/dpa)