Während ich diesen Text schreibe, ist Europa noch immer entsetzt über Le Pens Erfolg im ersten Wahlgang. Wenn Sie den Text lesen, wird Europa sicher ob Le Pens Niederlage im zweiten Wahlgang aufatmen. In diesem Rennen ist es wichtig zu siegen, nicht nur teilzunehmen, und der Skandal wird sehr bald vergessen sein. Aber selbst wenn er von den Titelseiten der Zeitungen verschwunden sein wird, ist das Problem der Beziehung des vereinigten Europa gegenüber jenen, die seinem Kreis nicht angehören, keineswegs gelöst. Obwohl Le Pen eine Schande der modernen Welt darstellt, ist das Verhältnis der offiziellen Politik der Europäischen Union gegenüber Fremden, Emigranten, Gastarbeitern Le Pens Programm ganz ähnlich, wenn das auch niemand zugeben möchte. Für uns Bürger der Outsider-Länder unterscheidet sich die Möglichkeit einer gewöhnlichen Touristenreise, geschweige denn Übersiedlung in ein Land des Schengen-Systems in nichts von dem rechtsextremistischen Programm, dessen sich die Zivilisierten schämen. Wir Marginalisierten müssen vor allem warten. Wussten Sie, dass die Bürger meines Landes, die ein Visum beantragen wollen, tagelang Schlange stehen müssen? Das heißt, man stellt sich gegen zehn Uhr abends an, egal ob es regnet, schneit, eiskalt oder heiß ist - wer aus irgendeinem Grund zum Beispiel Österreich besuchen möchte, wartet durchschnittlich zwölf Stunden. Das garantiert aber noch lange nicht, dass man das Visum bekommt, vielmehr wird man in der Regel abgewiesen, um der "Gefahr" vorzubeugen, man könnte in dem Land bleiben, das man besucht. Außer den vielen Dokumenten, die Sie vorlegen müssen (über Vermögen, Gesundheitszustand, Beschäftigung; dann Garantiebriefe, Stempel und Gebühren) sollten Sie darauf gefasst sein, dass man Sie freundlich abweist. Bei einigen Botschaften gilt es als erleichternder Umstand, wenn Sie verheiratet sind und Kinder haben, aber nur, falls Ihr Partner und Ihr Kind nicht mit Ihnen reisen. Mit anderen Worten, Sie hinterlassen Ihr Kind als Pfand. In anderen Konsulaten verlangt man Fotokopien der Devisen, die Sie mitzunehmen gedenken. Manche Botschaftsmitarbeiter ertragen den Anblick der nervösen Wartenden nicht, sodass Sie sich zwei Straßen weiter verziehen müssen. Wenn Sie in England zwei Stunden im Transitraum vor der Weiterreise in ein anderes Land verbringen, ohne die zollfreie Zone zu verlassen, brauchen Sie wiederum ein Visum. Und um das zu bekommen, haben Sie anzugeben, was Sie verdienen und welche Länder Sie in Ihrem Leben bereits besucht haben. Wenn Sie sagen, dass Ihr Gehalt Ihre Privatsache ist und Sie sich nicht an alle Länder erinnern können, werden Sie wieder liebenswürdig abgewiesen. Wenn Sie in Frankreich endlich Ihr Visum erhalten, klebt man Ihnen in den Pass ein Papier, auf dem Ihnen der Konsul mitteilt, dass dises gültige Visum nicht die Einreise ins Land garantiert. Jeder Bedienstete an der Grenze des Schengen-Reichs hat das diskrete Recht, Ihr Visum zu entwerten und Sie mit dem nächsten Flugzeug nach Hause zu schicken. Auf Ihre Kosten natürlich. Warum belästige ich Sie mit all dem? Nur damit Sie sich, wenn es wieder mal um die Menschenrechte als Prinzip der westeuropäischen Demokratie geht, daran erinnern, dass auch das Recht auf Freizügigkeit dazu gehört. Und dass dieses Recht wie viele andere heute, da (hoffentlich) Le Pen geschlagen ist, auch weiterhin nur für die Privilegierten gilt. Übersetzung aus dem Serbischen: Barbara Antkowiak Biljana Srbljanovic lebt als Schriftstellerin und Dramatikerin in Belgrad; sie schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag, alternierend mit Barbara Coudenhove-Kalergi. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6. Mai 2002)