Von seiner Mutter will Luis nicht abgeholt werden. "Ich will mit dir mit", sagt der schwarze Bub zur Reporterin aus Deutschland. "Davon träumen sie alle", seufzt Schwester Denisse Pichardo, "dass irgendein Tourist sie heraus-holt aus ihrer Misere." Denisse arbeitet für "Caminante", eine Organisation, die sich im dominikanischen Badeort Boca Chica um vernachlässigte Jugendliche kümmert.Doch für die meisten bleibt es beim Traum. Mehr als 30.000 Buben und Mädchen zwischen elf und 17 Jahren prostituieren sich laut Expertenschätzungen in der Dominikanischen Republik. Der karibische Inselstaat liegt damit neben Thailand, den Philippinen und Brasilien weltweit an der Spitze. Unter Drogeneinfluss Luis hat die Nacht im Gefängnis verbracht. Am Vorabend war er mit einem ausländischen Touristen gesehen worden. Später wurde er von Polizisten aufgegriffen, weil er am Gehsteig schlief; mit Verbrennungen am Bauch und unter Drogeneinfluss. Von älteren Buben hat Luis gelernt, wie man rasch zu Geld kommt: An dunklen Straßenecken vor "Kunden" die Hose runterlassen und masturbieren. Für ein paar Dollar mehr muss er manchmal auch andere Dinge tun. Seinen Verdienst gibt er meist gleich wieder aus; für Klebstoff (als Rausch-mittel), Crack oder Alkohol. Zu Hause angekettet Seinen Vater kennt Luis nicht, seine Mutter kommt mit seinem rebellischen Wesen nicht zurecht; sie schlägt den Buben, gibt ihm nichts zu essen oder kettet ihn an, damit er nicht ständig ausreißt. "Wenn die Kinder einmal im Geschäft sind, ist es zu spät", sagt Schwester Denisse, "deswegen müssen wir vorher tätig werden und mit der Familie arbeiten." Rund 100 Familien betreut die schwarze Frau. Sie und ihre sieben Mitarbeiter führen Aufklärungsgespräche und versuchen, mit Spielnachmittagen, Handwerkskursen und Englischunterricht gefährdete Kinder zu beschäftigen und ihnen einen anderen Lebensweg aufzuzeigen. "Sozialer Aufstieg" Doch einige Familien verbitten sich die Einmischung von außen. "Besonders für Schwarze ist es ein sozialer Aufstieg, wenn ihre Tochter mit einem weißen Touristen ausgeht und ihn vielleicht heiratet. Zwar geht für die wenigsten dieser Traum in Erfüllung, aber ich bin dann die Böse, weil ich die Familie um die Chance ihres Lebens bringe", erzählt Denisse. Regierung und Justiz drücken oft beide Augen zu, um dem einträglichen Tourismus-geschäft nicht zu schaden und schieben die Verantwortung auf die Familien. Viele Hoteliers und Reiseveranstalter leugnen die Zustände. Nur einige - wie Frank Schwarz, der ein Hotel betreibt - verpflichten ihre Gäste schriftlich dazu, keine flüchtigen Bekanntschaften über Nacht mit aufs Zimmer zu nehmen. Dies ist freilich nur ein Anfang, denn die Grenze zwischen Prostitution und flüchtiger Urlaubsbekanntschaft ist oft fließend. Schutzgesetze Druck auf Hotelbetreiber, Regierungen und Reiseveranstalter macht seit einigen Jahren die Vereinigung "Ecpat" ("End Child Prostitution, Pornography"), der inzwischen mehr als 300 Organisationen und Unterstützer in 45 Staaten angehören. "Ecpat" drängt auf Gesetze zum Schutz von Kindern und hat damit auch schon Erfolg gehabt. In Deutschland zum Beispiel steht der sexuelle Missbrauch von Kindern im Ausland seit 1993 unter Strafe. Mit den europäischen Reiseveranstaltern verhandelt "Ecpat" derzeit über einen Verhaltenskodex. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7. 5. 2002)