Einer Tradition entsprechend, erlässt der neu gewählte Staatspräsident Frankreichs eine Amnestie für einige kleinere Vergehen. In erster Linie profitieren davon Verkehrssünder, und weil das alle Franzosen im Voraus wissen, sind die Sitten auf den Straßen entsprechend verwildert. Diesmal soll eine weitere Person in den Genuss der präsidialen Amnestie kommen: Präsident Chirac. Laut der am Mittwoch erscheinenden Neuausgabe des le canard enchaîné bereitet eine Arbeitsgruppe des Elysée-Palast einen entsprechenden Text zu den "meisten Justizaffären des Präsidenten" vor. Die voraussichtlich im Juli vom Parlament verabschiedete Verkehrsamnestie "könnte um Paragrafen bereichert werden, die ausdrücklich politische Justizaffären im Auge haben". Raffarins Ministerliste umstritten Jacques Chirac war am Dienstag allerdings zuerst einmal mit der Regierungsbildung beschäftigt. Sein am Vortag ernannter Premierminister Jean-Pierre Raffarin unterbreitete ihm am Morgen im Elysée eine Ministerliste, die aber offenbar nicht überall Gefallen fand. Die Ankündigung der Regierungsequipe verzögerte sich damit. Die prominentesten Namen sickerten trotzdem durch. Außenminister soll Chiracs bisherige rechte Hand Dominique de Villepin werden. Der aktuelle Sekretär im Elysée ist ein Berufsdiplomat, der gerne im Hintergrund operiert. Er scheute bisher das Rampenlicht der Medien, obwohl er über ein ausgeprägtes Ego und ein stürmisches Temperament verfügt; viele nennen ihn schlicht "Chiracs Musketier". Favoritin für das Amt der Europaministerin ist die frühere Präsidentin des Europaparlamentes, Nicole Fontaine von der liberalen und sehr europafreundlichen UDF. Sie gilt im Unterschied zu de Villepin eher als Wogenglätterin. Eine zentrale Figur in der neuen Rechtsregierung wird Nicolas Sarkozy mit dem Innen- und Sicherheitsministerium darstellen. Der ambitiöse Junggaullist hatte sich bereits als Regierungschef gewähnt und musste von Chirac persönlich besänftigt - und mit dem wichtigsten Ministerium - abgefunden werden. Tauziehen Um die weiteren Posten im Raffarin-Team dauerte das Tauziehen an. Die Präsidentin des gaullistischen RPR, Michèle Alliot-Marie, wollte sich zuerst nicht mit dem Verteidigungsministerium abfinden; und der Stahlindustrie-Manager Francis Mer zögerte, ob er das ihm angetragene Finanz- und Wirtschaftsministerium annehmen sollte. Auch andere Ministerkandidaten schienen Garantien zu verlangen, dass Raffarins Regierung auch nach den Parlamentswahlen im Juni im Amt bleibt. Erhöht wurden die Schwierigkeiten, da der neue Premier eine "schlanke" fünfzehnköpfige Regierung wünscht. Damit lassen sich aber nicht alle Parteiflügel befriedigen. Der Zentrist Jean-Pierre Raffarin von der kleinen Partei "Démocratie Libérale" bekundet zudem Mühe, sich gegen die gaullistischen Schwergewichte wie Chirac, de Villepin oder Sarkozy durchzusetzen. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.5.2002)