Nichts deutet darauf hin, dass in dem Mord an dem Rechtspopulisten Pim Fortuyn zur Stunde mehr zu erblicken wäre als die sinnlose oder auch bloß pathologische Entladung krimineller Energie. Doch wer oder was den Gewalttäter zu seiner Bluttat auch bewogen haben mag: In das Entsetzen der niederländischen Öffentlichkeit mengt sich die undeutliche Erinnerung an ein Notwehrrecht, das zum Schutz der demokratischen Verfassung das Bild der erhöhten republikanischen Wachsamkeit heraufbeschwört. Nicht ohne Pathos wird in solchen prekären Fällen an den Ausnahmezustand der Krise erinnert: Welcher auf Frieden und Gewaltlosigkeit eingeschworene Demokrat hätte nicht in der rechtzeitigen Tötung Adolf Hitlers die bannende Abwehr von Holocaust und Massenvernichtung erblickt - wäre sie denn vor der Zeit, womöglich schon in den 20er-Jahren, in einem Münchner Bierkeller oder in einem rohen Handgemenge passiert? Gewiss lohnt die Figur Fortuyn, deren frivoles Spiel mit liberalen Tabus gerade in den laizistischen Niederlanden besonders verstört haben mag, keinen Vergleich mit Hitlers apokalyptischer Sendung. Doch der Appell an das rein defensiv gebrauchte Recht auf Notwehr ist der unverbrüchliche Bestandteil einer Ethik, welche die Mächtigen - und Fortuyn stand auf dem Sprung zur Macht - im Namen der republikanischen Tugenden an ihre Endlichkeit erinnert. Man muss nicht Cicero zitieren, der die Römer nimmermüde darauf einschwor, politische Wachsamkeit zu üben: Über die Widerstandskraft und Güte von Gemeinwesen entschied stets auch die Fähigkeit, Anschlägen auf die ihnen zugrunde liegenden Freiheitsrechte fakultativ zu begegnen. Unter den zahllosen Attentätern der Weltgeschichte finden sich viele Schwarmgeister, Anarchisten, Hooligans, Verbrecher - aber auch anerkannte Idealisten und Leistungsethiker, deren Begründungen, soweit diese überhaupt ruchbar wurden, vor dem Gericht der Überlieferung standhielten. Es sind idealistische Jünglinge gewesen wie der Naumburger Pastorensohn Friedrich Staps, die im Namen der Vernunft der von ihnen vertretenen Prinzipien gegen Popanze handgemein wurden. Solche im Grunde friedfertigen Terroristen übersteigen die bequemen Kategorien von Sitte und Anständigkeit: Staps' dilettantischer Anschlag auf Napoleon 1809 in Wien wurde zwar vereitelt; doch welche Blutbäder hätte sich das alte Europa im Falle des Glückens erspart? Im Falle des Rechtspopulisten Fortuyn, über den hier posthum kein Stab gebrochen sei, kommt hingegen ein anderer, verdunkelnder Aspekt hinzu. Stets hat sich die so genannte "rechte" Intelligenz auf die Ermächtigungsidee durch den "Ausnahmezustand" berufen: Noch Jörg Haider schlug ja die Überwindung der "zweiten Republik" als Reformprojekt vor, als angebliche Gesundung der Demokratie auf dem Wege zu sich selbst. Wer aber den Ausnahmezustand ausruft, das wusste schon der Staatsrechtler Carl Schmitt, proklamiert zugleich den Austritt aus einer Ordnung, deren angebliche Gefährdung ihn dazu bringt, sie zu verwerfen. Und ist es nicht die angebliche Gefährdung durch Multikulturalität und Korruption, die Maulhelden wie Le Pen zu Alarmschlägern macht? Wer sich auf die Notwehr beruft, setzt Gewalt voraus. Schlimm dran ist, wer zu ihrer Eindämmung nichts beiträgt. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8./9. 5. 2002)