Die Niederlande galten bisher als ein, vielleicht der europäische Vorzeigestaat: eine tolerante, multikulturelle Gesellschaft mit großzügiger Sozial-und dynamischer Wirtschafts- politik, niedriger Arbeitslosig- keit und hoher Lebensqualität. Wenn in einem solchen Land Mord zu einem Mittel politischer Auseinandersetzung werden kann, bedeutet dies höchste Alarmstufe für ganz Europa.

Pim Fortuyn hat am harmonischen Bild der Niederlande gekratzt. Man mag einige seiner Aussagen und Ansichten für bedenklich bis gefährlich halten. Nichtsdestoweniger ist es demokratisch legitim, Fragen wie diese zu stellen: Wie viele Zuwanderer aus anderen Kulturen kann eine Gesellschaft verkraften, ohne das notwendige Minimum an Zusammenhalt zu verlieren? Zuwanderer, von denen viele zwar die Vorteile des westlichen Wohlstandsmodells in Anspruch nehmen wollen, dessen zentrale ideelle Werte wie Toleranz und Pluralismus aber nicht wirklich teilen - wie dies zumindest für manche Muslime gilt.

Fortuyn war bekennender Homosexueller und beklagte sich darüber, dass er dafür von muslimischen Immigranten angefeindet werde. Ob er damit besonders geschickt - nämlich über persönlich eingeforderte Toleranz - rassistische Ressentiments schüren wollte, ist letztlich eine müßige Frage. Diese Ressentiments sind offenbar weiter verbreitet als bisher angenommen, wie der gehässige und abstoßende Inhalt vieler Kondolenzbotschaften im Internet nach dem Attentat zeigt. Dennoch lässt es sich nicht nur mit Rassismus, Populismus und dem Bedienen von Vorurteilen und niederen Instinkten erklären, dass Fortuyns Partei bei den Kommunalwahlen in Rotterdam mit 35 Prozent der Stimmen stärkste Kraft wurde. Da wurden offenbar wunde Punkte getroffen.

Schon der Erfolg Jean-Marie Le Pens bei den französi- schen Präsidentschaftswahlen, durch eine breite Gegenbewegung nur mühsam eingedämmt, hat es gezeigt: Unter der Oberfläche eines scheinbar breiten Konsenses und politischer Korrektheit, die von den etablierten Parteien repräsentiert werden, brodelt es immer stärker. Vielfältige Bedrohungsbilder und Ungewissheiten - Immigration, Kri- minalität, Globalisierung, EU-Erweiterung - summieren sich bei vielen Menschen zu einem dumpfen Grundgefühl der Zukunftsangst.

Die Mediengesellschaft mit ihrer üppigen Reizproduktion verstärkt diese Ängste noch - und bietet zugleich den Verkündern einfacher Lösungen die ideale Plattform. Pim Fortuyn ist selbst ein Beispiel dafür - das bisher drastischste. Ohne seine ständige Medienpräsenz wäre sein politischer Aufstieg nicht so schnell und steil gewesen. Dass er unmittelbar nach einem Radiointerview ermordet wurde, ist eine schreckliche Ironie.

Fortuyn war gefeierter Stargast der Talkshows. Er genoss es sichtlich - und löste damit auch spektakuläre Reaktionen wie den Tortenangriff aus. Die Bilder vom smarten Populisten, der plötzlich wie ein begossener Pudel dastand, gingen über alle Fernsehsender. Der Politiker Fortuyn wurde damit lächerlich gemacht, zugleich aber auch der Mensch Fortuyn in seiner Würde und Integrität verletzt.

Hat er selbst provoziert, werden manche seiner Gegner gedacht und gesagt haben. Jetzt, nach dem Mord, stellt sich allerdings die Frage, ob damit nicht auch eine Hemmschwelle gesenkt wurde. (Dass eine österreichische Zeitung nach der Tat ein Bild des tortenbeworfenen Fortuyn auf die Titelseite stellte, ist auch in diesem Kontext zu sehen und mehr als eine Geschmacklosigkeit.)

Eines steht mit dem Attentat von Hilversum jedenfalls fest: Europas Politik kann nicht mehr Business as usual machen. Wenn die gemäßigten Kräfte eine weitere Radikalisierung und Polarisierung verhindern wollen, müssen sie die Menschen dort abholen, wo sie sind, in ihrem Bewusstsein und im ganz realen Alltagsleben. Das Schönreden von Problemen, auch wenn es sich moralisch legitimiert, nützt letztlich nur den Vereinfachern und Verführern. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 8. Mai 2002)