Die Stellung der Kinder in den Industriestaaten ist reichlich ungeklärt: Einerseits gelten sie als Wertestifter schlechthin, andererseits als Störenfriede in einer rasend schnellen Zeit. Denn zweifellos zwingen sie Eltern zu Langsamkeit und längerfristigen Bindungen, kosten Geld und hemmen Flexibilität sowie Selbstverwirklichung der Erwachsenen. In dem Maße, in dem die Zahl der Kinder sinkt, steigt auch die Unsicherheit, wie man sie am besten behandeln sollte. Der jugendliche Amokläufer von Erfurt hat die Frage aktualisiert: Was fehlt dem Nachwuchs in der Neuzeit?
Nur die Hälfte der Kinder im so genannten Westen ist glücklich, meint der Psychotherapeut und Innsbrucker Pädak-Professor Heinz Zangerle. Das zeigten internationale Studien. 20 bis 30 Prozent seien als Problemkinder zu bezeichnen, die dringend mehr Gespräch und Zuwendung brauchen – "aktives Kümmern" nennt es Zangerle im STANDARD-Gespräch. Doch Probleme würden heutzutage gerne "outgesourct", pathologisiert und therapiert: Hyperaktive Zappelphilippe bekommen die Pille Ritalin und Bettnässer Hormone. Daneben zwinge man Kinder, kleine Erwachsene zu sein, kritisiert Zangerle. "Denken Sie an diese altklugen Kinder, die in der Millionenshow als intellektuelle Stopfgänse auftreten!"
Autos statt Kinder
Der Wiener Jugendpsychiater Ernst Berger will Glück und Unglück der Kinder zwar nicht in Zahlen fassen, meint aber auch: "Das Lebenstempo ist zu schnell für Kinder und zu sehr an der erwerbsbezogenen Lebensgestaltung orientiert." Berger hat (gemeinsam mit Max Friedrich, Udo Jesionek und Kurt Scholz) vor vier Jahren den Verein "Kinderstimme" gegründet, der sich unter anderem dafür einsetzt, die Bedürfnisse der Jüngsten in der Stadtplanung besser zu berücksichtigen. Viel hat sich seither nicht geändert. "Die Räume, die Kindern und Jugendlichen in den Städten zur Verfügung stehen, sind in den letzten Jahrzehnten drastisch zurückgegangen und dem fließenden wie dem ruhenden Verkehr geopfert worden", sagt Berger resignierend. Sogar in ländlichen Gebieten seien Bereiche, die dem Nachwuchs ganz speziell gewidmet sind, "minimal". Änderungswille? Sieht er keinen.
Trotzdem sei auch Positives geschehen: So habe sich beispielsweise das kulturelle Angebot für Kinder und Jugendliche deutlich erhöht.
Den Erwachsenen ist indessen die Sicherheit im Umgang mit ihren Sprösslingen verloren gegangen. In den USA wurde eine große Debatte darüber geführt, ob Erziehen vielleicht überhaupt sinnlos sei, weil Genetik und jugendliche "Peer-Group" angeblich ohnehin größeren Einfluss auf Heranwachsende haben (Judith Rich Harris: Ist Erziehen sinnlos? Die Ohnmacht der Eltern). In Deutschland, wo diesem Thema schon seit geraumer Zeit großer medialer Raum eingeräumt wird, ist von Erziehungskrise, gar "Erziehungsnotstand" die Rede. Das wiederum beunruhigt Berger gar nicht: Ein Wertewandel löse eben Orientierungsschwierigkeiten aus, das sei ganz normal.
Fest steht jedenfalls: Einschlägige Ratgeber boomen. Der Hausverstand in diesem Bereich scheint abhanden gekommen zu sein. Das beobachtet auch Zangerle in den Tiroler Erziehungsberatungsstellen, die er mit aufgebaut hat. Viele Eltern wollten den Kindern jede Frustration ersparen und verzichteten daher auf Autorität. Wenn dieses Konzept aber nicht funktioniere, falle man in übermäßige Strenge zurück, in dem Sinne: "Die Kuschelpädagogik ist gescheitert."
Für Beate Großegger, Jugendkulturforscherin, brauchen Kinder und Jugendliche jedoch vor allem eines: "Kommunikation". Dass Amokläufer vorwiegend männlich sind, wundert sie nicht. "Mädchen und Frauen sprechen sich eher aus." In einsamer Verzweiflung neigen Mädchen zu "Autoaggression", indem sie sich etwa die Unterarme aufschneiden. Ein Alarmsignal sei es, wenn sich Jugendliche "einkapseln" und selbst zu Gleichaltrigen den Kontakt verlieren.
Anecken ist in Ordnung
Hingegen ist "anecken, im Stadtbild auffallen" völlig in Ordnung – vor allem, wenn es in der Gruppe geschieht, in der man sich sozial aufgehoben fühlt, sagt Großegger. "Da werden Probleme öffentlich ausgehandelt." Dass die Toleranz anderen gegenüber abnehme, beobachtet die Forscherin nicht. Und auch wenn Klassenzimmer oder Hörsaal nach dem Verlassen seiner Besucher manchmal wie von Vandalen heimgesucht aussehen, so sei dies eben Ausdruck der "Dienstleistungsgesellschaft und von den Jugendlichen nicht böse gemeint", Motto: "Dafür gibt's ja eine Reinigungsfrau." Man müsse die Kids aber darauf ansprechen, meint Großegger. Womit sie wieder bei der Kommunikation angelangt ist. "Für Mädchen ist es mittlerweile ganz normal, emanzipiert zu sein. Wenn sie etwas stört, sprechen sie es an", berichtet die Expertin, was Buben gelegentlich irritiert. Diese haben ihre Rolle offenbar noch nicht ganz gefunden und markieren in wissenschaftlichen Befragungen gern den starken, aber eher wortlosen Kerl.
Was relativ logisch ist, fehlt doch daheim häufig das Vorbild vom gleichberechtigten Elternpaar. Selbst bei großen familiären Problemen und wenn man "männerfreundliche" Abendtermine in der Beratungsstelle anbiete, kommen die Väter "zu 90 Prozent nicht", sagt Zangerle. Sein pessimistischer Tenor: "Die Grundressourcen Zeit, Beziehung und Wärme gehen zunehmend in Erwerb oder Konsum und fallen für die Kinderbetreuung aus." (Der STANDARD, Print-Ausgabe 10.5.2002)