Europa
Stahlhand für Frankreichs Wirtschaft
Mit ihm rechnete niemand: Francis Mer, Frankreichs neuer Wirtschaftsminister, ist kein pflegeleichter Amtstechnokrat, sondern ein Stahlkonzernchef der geradlinigen Art
Paris - In seinem Chefbüro im Pariser
Geschäftsquartier La Défense
sucht man vergeblich einen
Computer, und das lästige
Handy stellt Francis Mer nur
an, wenn er ausnahmsweise
selber jemanden anruft: Der
Vorsitzende des internationalen Stahlkonzerns Arcelor
ist ein Patron der alten Schule,
den seine Mitarbeiter drängen
müssen, sich nach über zehn
Jahren wieder mal ein neues
Dienstauto zu gönnen.Mit solchen Details hält sich
der 62-jährige Ingenieur nicht
auf. Mer ist der Mann, der die
gesamte französische Stahlindustrie saniert hat. 1986 an die
Spitze des maroden Staatsbetriebs Usinor (88.000 Arbeitsplätze) berufen, griff er mit eiserner Hand durch, fusionierte mit Sacilor, privatisierte
und fusionierte 2001 mit der
luxemburgischen Arbed und
der spanischen Aceralia zu einem Weltkonzern.
Obwohl er dabei 22.000
Stellen abbaute, haftet ihm
das Etikett eines "sozialen Patrons" an. Mer gilt zwar als unbeugsam und bisweilen brutal, aber Gewerkschafter räumen auch ein, dass er Wort
halte und sich wirklich für die
Belegschaften und das Allgemeinwohl interessiere.
Staatschef Chirac wählte
den Stahlpatron zweifellos,
um mit bisherigen Usancen zu
brechen: Nach dem Wahlschock Le Pen sollen "Macher" des "realen" Frankreich,
nicht mehr die Pariser Eliteschulabgänger der Wirtschaft
neue Impulse verleihen. Mer
muss sofort handeln. Denn
Chirac verlangt von seiner
neuen Regierung noch vor den
Parlamentswahlen im Juni
konkrete Resultate.
In Absprache mit dem ihm
untergeordneten Budgetministerium muss Mer die Einkommensteuern um fünf Prozent senken. Gleichzeitig
verlangt Chirac aber auch
neue Staatsausgaben, namentlich für die Polizei. Zeitungen gehen davon aus, dass
Mer deshalb die Vorgaben des
EU-Stabilitätspaktes (Defizitabbau bis 2004) "neu aushandeln", das heißt lockern will.
Lockern dürfte Mer auch die
von der Linken eingeführte
35-Stunden-Woche, die er als
"demagogisch" bezeichnet.
Politischer und gewerkschaftlicher Widerstand ist
ihm dabei sicher - genauso wie bei den heiklen Reformen
der Steuerverwaltung und des
Rentenwesens.
Ein rotes Tuch ist für Mer
auch das von seinem sozialistischen Vorgänger Laurent
Fabius hinterlassene Gesetz
gegen missbräuchliche Entlassungen. Außerdem dürfte
der "eiserne Mann" bald versuchen, das Kapital der staatlichen Strom- und Gaskonzerne EDF und GDF für europäische Konkurrenten zu öffnen, was bisher noch keinem
Wirtschaftsminister gelang.
Diese Aufgaben verlangen
nicht nur Durchsetzungsvermögen, sondern enormes sozialpolitisches Fingerspitzengefühl. Mer hat dies bei Usinor
unter Beweis gestellt. Im vergangenen Jahr scheiterte er
allerdings beim Versuch, sich
im Auftrag des Arbeitgeberverbandes Medef mit den Gewerkschaften auf ein nationales Programm für die "lebenslange Berufsbildung" zu
einigen. Die viel gerühmte
"Mer-Methode" hat offenbar
auch ihre Grenzen.(Der STANDARD, Print-Ausgabe 11.5.2002)