Den Haag/Brüssel - Ein Toter als Spitzenkandidat einer wahlwerbenden Gruppe, die letzte Woche vor dem Urnengang ohne Wahlkampf: Die Niederlande bereiten sich auf einen außergewöhnlichen und nicht einschätzbaren demokratischen Akt am kommenden Mittwoch, dem 15. Mai vor. Die Politologen sind sich uneinig, ob die Liste Pim Fortuyn, deren Programm das charismatische Auftreten des Anfang der Woche ermordeten rechtspopulistischen Listengründers war, nun dank Mitleidseffekt und "Jetzt erst recht"-Haltung besonders viele Stimmen erhält, oder ob die Wähler sich von dem nunmehr führungslosen Phänomen der "Lijst Pim Fortuyn" (LPF) abwenden.

Vor dem Mord an Fortuyn war seiner Liste ein sehr gutes Ergebnis von an die 20 Prozent der Stimmen vorhergesagt worden, manche Umfragen ließen die Liste sogar als stimmenstärkste Gruppe aus der Wahl hervorgehen. Auch nach dem Mord an Fortuyn rechnen alle damit, dass bei dieser Wahl die LPF, die in Rotterdam schon als stimmenstärkste Kraft den Einzug in den Gemeinderat der Hafenstadt schaffte, eine entscheidende Rolle spielen wird.

Völlig offen ist aber die mittelfristige Perspektive der Gruppierung, die noch keine Strukturen aufbauen konnte und deren 54 Listenmitglieder weder bekannt sind noch in der Lage scheinen, auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit zu erregen, wie der Soziologieprofessor mit den markigen Sprüchen.

Dünne Personaldecke

Der neue Listenführer wird erst am Tag nach der Wahl bestimmt. Da die LPF kein ausdrückliches Programm hatte, kann auch ein Nachfolger nicht auf dieses festgenagelt werden. Die Wahl der Person wird daher die Richtung der Gruppe und ihren künftigen Erfolg entscheiden. Wie dünn die Personaldecke ist, zeigt eine andere Ankündigung der LPF: Sollte sie mehr als 54 Sitze erobern, dann will sie diese auf die anderen Parteien aufteilen.
Der mutmaßliche Fortuyn-Mörder hat möglicherweise noch weitere Attentate geplant. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft in Amsterdam bestätigte am Freitag, dass bei dem 32-jährigen Umweltaktivisten Volkert van der Graaf Namen und Adressen von drei weiteren Kandidaten der Liste Pim Fortuyn (LPF) gefunden worden sind. Fünf prominente LPF-Kandidaten für die Parlamentswahl am kommenden Mittwoch sowie ein Mitglied der Parteiführung haben inzwischen verstärkten Polizeischutz erhalten. (APA, dpa, red, Der STANDARD, Print-Ausgabe 11./12.5.2002)