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Zwei Fingerbreit Ehre auf der Blume der Stirn gab uns der Schöpfer." Merkwürdige Sätze stehen in diesem Roman, der wie so oft bei Kadare in der Tiefe der albanischen Geschichte spielt. Diesmal liegt das Geschehen freilich nicht so weit zurück - laut Klappentext "in der Mitte des vorigen Jahrhunderts", es muss aber um 1930 sein, zur Zeit des kurzlebigen Königreichs Albanien. Die Sätze dieses Buches klingen dennoch, als wären sie viel älter, und auch der Protagonist Gjorg Berisha versteht sie erst nach einige m Grübeln: "Die Ehre hat ihren Platz auf der Blume, also in der Mitte der Stirn, weil das die Stelle ist, an der deine Kugel den anderen trifft, oder seine Kugel dich." Gjorg muss seinen Bruder rächen. Nach den ungeschriebenen Gesetzen des nordalbanischen Berglandes liegt seine Familie mit einer anderen des Dorfes im Blut. Mit mathematischer Genauigkeit muss Blutschuld um Blutschuld beglichen werden. Keiner kann den Kelch der Rache an sich vorübergehen lassen, weil er dann seine Ehre verlöre. Damit er das nicht vergisst, hängt das blutige Hemd des ungerächten Toten im Familienturm. Bevor die Flecken verblasst sind, muss die Rache geschehen, denn sonst würde man "anfangen, ihm die Kaffeetasse unter dem Knie hindurch zu reichen. Das hieß, daß er tot war für den Kanun." In der Tat, eine merkwürdige Welt. Und dies ist auch Ismail Kadares hauptsächliche Botschaft. Er schrieb den Roman vor gut zwanzig Jahren, als es die kommunistischen Machthaber nicht mehr wirklich nötig hatten, ideologisch gegen den im Norden des Landes lange Zeit hartnäckig hochgehaltenen Kanun vorzugehen. Dieser Kanon des Gewohnheitsrechts, der auf der Ehre von Mann und Frau, vor allem aber auf der unantastbaren Heiligkeit des Gastes aufbaut, ist nicht islamischen, sondern christlichen Ursprungs. Er stammt noch aus vorosmanischer Zeit und überdauerte im katholischen Siedlungsgebiet die türkische Herrschaft. Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts behielt der Kanun seine Gültigkeit. In jüngster Zeit hat die Idee der Blutrache in Albanien in pervertierter, vom Bandenwesen bestimmter Form unfröhliche Urständ gefeiert. Der zerrissene April ist ein poetischer Nachruf auf diese mittelalterliche Rechtstradition und keine Propagandaschrift im Dienste der Volksaufklärung. Kadare erzählt die Chronik eines angekündigten Todes auf albanisch, hat doch jeder Bluträcher nach Ablauf eines "dreißigtägigen Ehrenworts" selbst sein Leben verwirkt. Dieses Datum ist es, das Gjorgs April in zwei Hälften zerreißt. Der "Blutnehmer" weiß, dass ihm die Stunde schlägt, dass seine Zeit abläuft: "Bis zu einer bestimmten Stunde erschien der Tag lang, sehr lang, dann aber, wie ein Tautropfen, der an einer Pfirsichblüte zittert, ehe er plötzlich fällt, riß er ab und ging zu Ende." Gjorgs Weg durch das noch winterliche Hochland zum Turm der mächtigsten Familie des Landes, wo er eine Blutsteuer zu entrichten hat, erscheint als mythische Lebensreise durch eine abweisende, sinnlose Welt. Das hinter den mächtigen Mauern verwaltete Gesetz ähnelt dem Kafkas frappant. Kadare breitet die grausamen und die bizarren Konsequenzen der Blutrache aus. Er zeigt aber vor allem, dass archaisch keineswegs mit primitiv gleichzusetzen ist: Der Kosmos des Kanun, der in Zweifelsfällen von hochgelehrten Schiedsrichtern ausgelegt wird, ist höchst komplex und erfasst das Leben in der Gemeinschaft bis in die feinsten Verästelungen. Der Roman leidet freilich darunter, dass Kadare sich die Vermittlung dieser wunderlichen Welt zum didaktischen Herzensanliegen macht. So führt er auch noch ein junges Ehepaar aus der Stadt ein, das - ähnlich den Reisenden in Bram Stokers Dracula - seine Hochzeitsreise der Erkundung der sagenhaften "Hochländer" widmet. Weil er praktischerweise Schriftsteller und Kanun-Experte ist, kann er sie über das komplizierte Kalkül des Blutes ausführlich belehren, worauf sie des öfteren "Wie schaurig!" oder "Wie schrecklich!" sagt und den Kutscher (auch des öfteren) fragt, wie weit es denn noch sei. Die Reise in die Vergangenheit übt auf das junge Paar bald einen verderblichen Sog aus, erst recht, als den beiden eines Tages der todgeweihte Gjorg begegnet. Ein Blick genügt, und die Frau aus der Stadt und der umdüsterte Mann aus den Bergen verlieben sich ineinander - doch die Begegnung bleibt folgenlos. Kadare gelingt es nicht, die beiden Handlungsstränge stringent zu verknüpfen. Mit Der zerrissene April eröffnet der Ammann Verlag seine Kadare-Werkausgabe; wann das Buch zum ersten Mal auf deutsch erschienen ist, erfährt man nicht. Kadare hat den Roman überarbeitet und erweitert, und man darf argwöhnen, dass er das lieber bleiben lassen hätte sollen. Vor lauter Unterricht kommt die Poesie zu kurz. Ausgerechnet bei diesem großen mythischen Thema versagt Kadares magischer Realismus - da hilft auch Joachim Röhms vortreffliche Übersetzung nicht. (Von Daniela Strigl - Album, 11.05.2002)