Wien - Man könnte sagen, Sir Simon Rattle ist ein schönes Fallbeispiel für sein eigenes Menschenbild. Er wirkt als Autorität mit menschlichem Antlitz, als Kapazität zum Anfassen - ist mehr Simon als Sir Rattle. Lockerheit statt Distanz. Ein Star natürlich, jedoch einer, der sich der irrationalen Übertreibungen dieses Status bewusst ist und diese eher konterkariert, als sie für seine Aura einzusetzen. Jemand mit so einem entmystifizierenden Menschenbild, das Abgründe und Schwächen als Teil der psychologischen Wahrheit betrachtet, kann auch einen Beethoven nicht anders als vermenschlicht sehen - abseits des rein Heldisch-Erhaben. Bei der 9. Symphonie ist das Ergebnis eine Art idyllisches Drama, das neben dem drastischen Aufbäumen denn auch viele Seelenregungen auslotet. Dabei hört man symptomatisch schon an den von den Violinen ausgekosteten Vierteln der Eröffnung, dass Rattle auf großzügiges Aussingen Wert legt. Immer wieder darf diesem Beethoven das melodische Herz übergehen (Adagio); aber Rattle ist eben auch ein Kontrastkünstler, der drängt und fordert, dann wiederum auch das Zerbrechliche (Klarinetten beim Schluss des ersten Satzes) sucht und überzeugend findet. Wie schon bei der Zusammenarbeit mit Alfred Brendel (Beethovens Klavierkonzerte) hört man auch hier Rattles Detailbesessenheit. Mit hoher Innenspannung ausgestattet, überlässt er keine Nuance dem Zufall, lädt jeden "Beistrich" mit Intensität auf. Zuweilen möchte man sagen, da sei manches übergestaltet; zweifellos empfunden, aber zu gewollt. Da und dort ein wenig mehr loslassen, an den großen Bogen denken. Wäre schön. Indes: Es ist die kontrollierte Ekstase, die Rattle ausmacht. Sie lässt den zweiten Satz zwischen Tanz, Schwärmerei und Filigranität changieren und den dritten in dunkler Schönheit des Philharmonischen Klanges schweben. Das Finale lebt ebenfalls von einer bewusst kontrastreichen Dynamik wie den profunden Stimmen (Barbara Bonney, Birgit Remmert, Kurt Streit, Thomas Hampson und der City of Birmingham Symphony Chorus), wenngleich die Lautstärke an einer Stelle doch ein wenig ins Grobe entgleitet. Bis das Gesamt-Beethoven-Ergebnis als Fünf-CD-Box (EMI) veröffentlicht wird, muss man sich übrigens bis März 2003 gedulden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 13. 5. 2002)