Wien - 400 Millionen Tonnen Chemikalien muss unser Planet alljährlich verkraften. Das ist nämlich laut Bjorn Hansen, Leiter des Büros für chemische Stoffe der Europäischen Kommission, die weltweite Jahresproduktion der chemischen Industrie. Die Auswirkungen vieler dieser Chemikalien auf Organismen sind wenig bis kaum erforscht, bezüglich der Wirkung von Stoffen auf ganze Ökosysteme kratzen die Wissenschafter erst an der Oberfläche. Noch bis Donnerstag tagen in Wien internationale Experten der Gesellschaft für Umwelttoxikologie und Chemie (SETAC)."endocrine disruptors" Den Geld-Wert der weltweiten Jahresproduktion an Chemikalien gab Hansen bei einer Pressekonferenz am Montag in Wien mit 1,565 Billionen Euro an, EU-weit sind es 488 Milliarden Euro. Derzeit geht man in der EU von der Existenz von 106.000 Chemikalien aus, rund 150 davon stehen in Verdacht, auch auf das Hormonsysteme von Menschen und Tieren zu wirken. Das Problem dabei: Hormonell wirksame Stoffe - im Fachjargon martialisch "endocrine disruptors" genannt - rufen Veränderungen in Organismen bereits in Konzentrationen hervor, die auch modernste Analysemethoden vor schwierige Aufgaben stellen. Daher ersinnen die Wissenschafter immer bessere Tricks, wie die endocrine disruptors dennoch erfasst werden können. So wurde ein Test mit gentechnisch modifizierter Hefe entwickelt, das Erbgut der Hefezellen enthält einen menschlichen Östrogenrezeptor und ein so genanntes Farbstoff-Reportergen. Docken Östrogen-Moleküle an die Rezeptoren an, erzeugt die Hefe einen Farbstoff und verrät geringste Mengen des Hormons. Auswirkung auf Öko-Systeme Aber selbst wenn die Wirkung einer Substanz auf einen bestimmten Organismus geklärt ist, die Wirkung auf ganze Ökosysteme ist um Größenordnungen komplizierter. Einerseits reagieren verschiedenste Tiere und Pflanzen auf denselben Stoff teilweise völlig unterschiedlich, dann beeinflussen sie sich in einem Lebensraum auch noch gegenseitig, etwa über Räuber-Beute- oder Parasit-Wirt-Beziehungen. So kann ein Organismus betroffen sein, auf den eine bestimmte Substanz direkt überhaupt nicht wirkt. An der Lösung derartig komplexer Wechselwirkungen sind Einzelwissenschaften hoffnungslos überfordert, daher arbeiten für SETAC Biologen, Chemiker, Toxikologen und zunehmend auch Mathematiker zusammen. Letztendlich geht es darum, die komplizierten Wechselwirkungen soweit zu vereinfachen, dass Modellrechnungen und somit Vorhersagen möglich werden. Hot spots Ein Schwerpunkt, den Ökotoxikologen in Österreich verfolgen, ist die Hot-Spot-Forschung. Im Rahmen des Forschungsschwerpunkts ARCEM werden beispielsweise Kläranlagen unter die Lupe genommen, in denen die verschiedensten, auch hormonell wirksamen Substanzen in besonders hohen Konzentrationen zusammen kommen. Dabei werden auch Abbaueffekte berücksichtigt - Abbauprodukte haben wieder ihre eigenen Wirkungen. In Zusammenarbeit mit Abwassertechnikern soll dadurch nicht zuletzt das Design der Kläranlagen verbessert werden. (APA)