Von Peter Vujica
Wien - So unaufregend Waltraud Meier auch die Rückert-Zeile "Ich bin der Welt abhanden gekommen" wie übrigens auch den Rest von Gustav Mahlers fünf Liedern nach Texten dieses Dichters gesungen haben mag, so trafen sie dennoch das - wenn auch unausgesprochene - Programm dieses außerordentlichen Abends im Musikverein.

Stand am Pult mit Claudio Abbado doch selbst ein den Berliner Philharmonikern als Chefdirigent "Abhandenkommender". Und hört man ihm und ihnen zu, vielleicht gar schon ein "Abhandengekommener", ein in Erlebnis-und Erkenntniszonen Entrückter, in die nur der (frei nach dem Parsifal) durch (Mit-)Leid wissend Gewordene Einlass findet.

Was Abbado an diesem Abend von - noch - seinen Philharmonikern dem faszinierten Publikum ausrichten ließ, waren Botschaften der anderen Art, die den sogar bei exponierten Spitzeninterpretationen üblichen Intensitätsgrad weit überschritten und lehrten, dass Erkennen und Fühlen in auserwählten Momenten dasselbe sein können.

Mahlers "Pierrot"

Mit so viel bebender Nervosität wird man Gustav Mahlers Orchesterbegleitung dieser fünf Rückert-Vertonungen wohl nicht so bald hören. Gegenüber der verwirrenden Verästelung der Klangfasern und im Vergleich zur Vielfalt der dynamischen Veränderungen nahm sich Waltraud Meiers solid-konventioneller Vokalbeitrag beinah wie ein Fremdkörper aus. Wurde vom Orchester doch nachgewiesen, dass es sich bei diesen Liedern eigentlich schon um Mahlers Pierrot Lunaire handeln könnte.

Noch viel mehr und noch weit mehr aufregend wurde mit Arnold Schönbergs in Noten gefasste, pastose und dröhnende Inhaltsangabe Pelleas und Melisande zu Maurice Maeterlincks gleichnamigem Bühnenstück der "alte Duft" seiner Entstehungszeit beschworen. Jener spätesten Spätromantik, der großen Zeit der einerseits peniblen, aber doch auch wieder lustvoll verlogen geschönten Seelenprotokolle.

Claudio Abbado und die Berliner brachten das Meisterstück zustande, Lust und Lüge dieser Vergangenheit zu einem in entlarvender Schönheit klingenden Symbol der Gegenwart zu machen. Abbado transformierte die Monsterpartitur auswendig dirigierend zu tönenden Megaenergien, die ihre Wirkung auf das Publikum nicht verfehlten. Auch wenn sie den Dirigenten bis an seine physischen Grenzen erschöpften.

So trat nach Schluss des Werkes eine überlange Generalpause ein, während der Claudio Abbado, Kräfte sammelnd, reglos dastand. Das Publikum aber wollte deren Ende nicht abwarten und bejubelte die Präsenz des Abhandenkommenden mit nicht minder donnernder Lautstärke. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.05. 2002)