Eigentlich hätten es normale Wahlen werden sollen. Noch vor einem halben Jahr gähnten die politischen Beobachter beim Gedanken an den Urnengang, und die spannendste Frage war, wer als Chef der größten Partei von der Königin den Auftrag zur Regierungsbildung bekommen würde - die sozialdemokratische "Partei der Arbeit" (PvdA) oder der zweitgrößte Koalitionspartner, die rechtsliberale VVD. In der direkt gewählten zweiten Kammer des Parlaments hatte die PvdA 45 Sitze, die VVD nur 38. Beide regieren seit acht Jahren zusammen mit der linksliberalen D66 (14 Sitze).

Inzwischen rechnen die Sozialdemokraten schon damit, sich nach dem heutigen Mittwoch von der Macht verabschieden zu müssen. Hauptgrund: der rasante Aufschwung einer neuen Rechten in den Niederlanden, deren Bedeutung Premierminister Wim Kok und seine Sozialdemokraten ebenso unterschätzt haben wie die Folgen des 11. September und die Unzufriedenheit über die Fehler und Versäumnisse der letzten acht Jahre. Besonders in den letzten vier Jahren ging immer mehr schief: Korruptionsaffären bei der Vergabe öffentlicher Aufträge für große Infrastrukturprojekte kamen an die Öffentlichkeit, die Wartezeiten für Operationen betragen Monate, das Unterrichtswesen erhält im internationalen Vergleich schlechte Noten, die Autobahnen sind verstopft, und die Züge kommen ständig zu spät - fatal für ein Land, dessen Arbeitsmarkt so sehr auf Mobilität angewiesen ist. Und nach den Anschlägen des 11. September regierte die Regierung in Den Haag langsam und nachlässig.

Sie hielt einen Justizminister im Amt, der zuließ, dass Zoll und Polizei am Flughafen Schiphol Drogenkuriere freiließen, weil es nicht genug Zellen für Untersuchungshäftlinge gab. Steigende Kriminalitätsraten in den großen Städten ließen den Ruf nach einem starken Staat auch schon vor dem 11. September laut werden. Doch auch Monate nach den Attentaten in den USA gab es in den Niederlanden niemanden, der das Thema "innere Sicherheit" so deutlich politisch besetzte wie beispielsweise der deutsche Innenminister Otto Schily.

Neue Koalition

Das war die Chance für die "neue Rechte" der Niederlande unter dem Rotterdamer Soziologieprofessor Pim Fortuyn, der schnell die Themen Einwanderungsstopp und innere Sicherheit für sich entdeckte. Nach der jüngsten Umfrage sollte Fortuyns Liste die zweitgrößte Fraktion im Parlament stellen (28 Sitze), nach den Christdemokraten mit 31. Genug für eine Neuauflage jener Koalition, die Fortuyns Leute in Rotterdam durchsetzten: Dort regieren sie zusammen mit Rechtsliberalen und Christdemokraten. Umfrage sagt Erfolge für Fortuyn-Partei voraus Fortuyns Partei kann bei der heutigen Wahl auf deutliche Erfolge hoffen. Eine am Dienstagabend veröffentlichte Umfrage sagte der erst vor drei Monaten gegründeten "Liste Pim Fortuyn" (LPF) 24 der 150 Parlamentssitze voraus. Damit würde sie viertstärkste Fraktion. Die bisher oppositionelle Christdemokratische Partei CDA kann der Umfrage zufolge beim Urnengang auf 35 Sitze hoffen. Die regierenden Sozialdemokraten müssen mit dramatischen Einbrüchen rechnen. Sie kämen nur noch auf 26 Mandate und damit 19 weniger als bisher. Fortuyn war am Montag vergangener Woche in Hilversum erschossen worden. Sein Tod erschütterte das Land und brachte seiner Partei nach Ansicht von Politologen einen Beliebtheitsschub.


(Klaus Bachmann/DER STANDARD, Printausgabe, 15.5.2002/APA)