Als die irische Wählerschaft 1997 zum letzten Mal an die Urnen pilgerte, wurden während des ganzen Jahres 128 Geländefahrzeuge der Marke Range Rover im Lande verkauft. Letztes Jahr waren es 1423 Stück. Die Auswahl des Beispiels ist beliebig: Wohin man schaut, werden Maßstäbe gesprengt, die Skala der Grafiken muss ersetzt werden. Außer in der Politik. Wenn spät am Freitagnacht die Wahllokale schließen, dann könnte es sehr wohl sein, dass die seit 70 Jahren dominierende Partei Irlands, Fianna Fáil, erstmals seit einem Vierteljahrhundert eine absolute Mehrheit geschafft hat.

Im irischen Konsumentenpreisindex lassen sich veränderte Gewohnheiten ablesen. Fertigmahlzeiten und Spezialbrote sind neu in den Warenkorb gerutscht, während Nähmaschinen und Dampfkochtöpfe rausflogen, weil offenbar niemand mehr Zeit hat für diese Aktivitäten.

Drastisch reduziert

Irlands Frauen sind scharenweise ins Erwerbsleben eingetreten, und auf einmal sind Kinderkrippenplätze rar wie Goldstaub. Die Zahl der Beschäftigten beiderlei Geschlechts wuchs allein in dieser Legislaturperiode von 1,3 auf 1,7 Millionen, die Arbeitslosenquote sank zeitweise unter vier Prozent, und die Einkommenssteuerbelastung wurde drastisch reduziert. Entsprechend befinden sich am Freitag unter den Wahlberechtigten acht Prozent, die das letzte Mal noch keine Stimme hatten. Es handelt sich dabei teils um Rückwanderer, teils um Jugendliche, und man muss bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen, um einen vergleichbar hohen Bevölkerungsstand zu finden. Doch der neue Reichtum - Irlands Pro-Kopf-Einkommen liegt inzwischen über dem EU-Durchschnitt - ist ungleich verteilt. Untersuchungen rügen eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.

Kein anderes EU-Land gibt weniger für soziale Wohlfahrt aus als Irland. Die Warteliste für Sozialwohnungen verdoppelte sich in den Jahren des grenzenlosen Aufschwungs. Als Irland noch arm war, galt es als selbstverständlich, dass ein frisch vermähltes Pärchen sich ein bescheidenes Häuschen kaufte und lange Jahre für die exorbitanten Bankzinsen schuftete.

Heutzutage liegen die Zinssätze zwar dank dem Euro tiefer denn je, aber die Häuserpreise sind unerschwinglich geworden. Miete zahlen ist plötzlich kein soziales Stigma mehr, sondern Schicksal. Und Dublins Pendlerradius ist auf über 50 Kilometer angewachsen, der Verkehrslagebericht wird immer länger.

Zeit als knappes Gut

Die Fixpunkte der irischen Gesellschaft haben sich seit der letzten Wahl dramatisch verschoben. Die Autorität der katholischen Kirche ist zerfallen, zahlreiche Korruptionsskandale schädigten den Ruf der Politiker, das Verhältnis zu Europa ist erstmals umstritten. Und die Zeit hat das Geld als knappes Gut ersetzt.

Alle diese Entwicklungen haben indessen auch ihre positive Seite, denn es ist eine offenere, ehrlichere und kritischere Gesellschaft geworden. Nur in der Parteipolitik gelten offenbar andere Gesetze: Dort halten die irischen Bürger treu am Bewährten fest und stellen keine unbequemen Fragen. Vielleicht kann man ja wirklich nicht alles auf einmal umkrempeln.

(DER STANDARD, Printausgabe, 15.5.2002)