Nahost
Kriegsdienstverweigerer werden in Israel innenpolitischer Faktor
Schon über 1.100 Verweigerer seit Beginn der Al Aksa-Intifada - Grüne fordern wirtschaftlichen Druck auf Israel
Wien - Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer ist in Israel
seit dem Ausbruch der Al Aksa-Intifada im September 2000 auf über
1.100 gestiegen. Gleichzeitig wird die Verweigerung in der
israelischen Gesellschaft mehr und mehr als legitimes Recht
betrachtet. Das sagte am Donnerstag Dan Tamir, selbst ein "Refusnik",
auf einer Pressekonferenz der Grünen in Wien. Die außenpolitische
Sprecherin der Grünen, Ulrike Lunacek, forderte die israelische
Regierung dabei zum Stopp aller militärischen Aktionen auf. Tamir war viereinhalb Jahre lang Berufssoldat und ist mittlerweile
Aktivist der Bewegung Yesh Gvul ("Es gibt Grenzen"), welche die
Refusniks, wie sich die Verweigerer selbst nennen, materiell und
organisatorisch unterstützt. "Wir sind keine Pazifisten", erklärt
Tamir die Motive der Yesh Gvul-Mitglieder. Er wäre bereit, in der
Armee zu dienen, aber eben nicht in den Palästinenser-Gebieten und
nicht in einem "Krieg gegen Landsleute, Nachbarn und die
Zivilbevölkerung". Die Invasionen im Westjordanland seien "kein Krieg
gegen äußere Feinde", kein Verteidigungskrieg. Und das sei eben die
Grenze, ab der er nicht mehr mitmachen könne. Wegen seiner Weigerung
verbrachte Tamir 28 Tage in einem Militärgefängnis.
"Deklarierte Refusniks"
Das Phänomen der Wehrdienstverweigerung in den besetzten
Palästinenser-Gebieten spielt in der israelischen Innenpolitik eine
immer größere Rolle. Seit Beginn der zweiten Intifada stieg die Zahl
der Verweigerer auf über 1.100 an. Tamir wies darauf hin, dass diese
Zahl nur die "deklarierten Refusniks" beinhaltet, also jene, die ihre
Verweigerung öffentlich machen. Daneben gebe es aber noch viele, die
ihre Einberufung auf anderen Wegen verhindern. Sie melden sich
beispielsweise krank oder entschuldigen sich mit der Schwangerschaft
ihrer Frauen.
Den Weg in die Öffentlichkeit scheuen viele, weil sie "sozialen,
politischen und psychischen Druck aus der Gesellschaft" befürchteten,
sagte Tamir. Gleichzeitig sei aber die Akzeptanz für einen solchen
Schritt in den letzten 20 Jahren, seit dem israelischen Einmarsch in
den Libanon 1982, deutlich gewachsen. Damals gab es die erste große
Welle von Verweigerungen. Tamir zitierte eine Studie der Universität
Tel Aviv, wonach heute 23 bis 24 Prozent der Israelis diesen Schritt
unterstützen. Das sei vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen, fügte er
hinzu. Und trotzdem sei schon damals die Furcht der Regierung vor
einer Massendesertion ein wesentlicher Grund gewesen, warum sich die
Armee 1984 aus dem besetzten Libanon auf eine "Sicherheitszone" im
Süden des Landes zurückzog.
Auch hochrangige Generäle verweigern
Einen Grund für die steigende Akzeptanz sieht Tamir darin, dass
immer mehr hohe Offiziere den Dienst in den besetzten Gebieten
ablehnen. Zu Beginn der Intifada seien es vor allem Träger niederer
militärischer Ränge gewesen, zuletzt sei aber auch die Zahl der
hochrangigen Generäle unter den Refusniks gestiegen. Die Bewegung
durchlaufe damit die Befehlskette von unten nach oben. Die
Verweigerer seien eine "Basisbewegung", betonte Tamir. "Die Regierung
will die Bewegung der Verweigerer verstecken. Deshalb wurden auch nur
120 Soldaten inhaftiert. Das Letzte, was die Regierung braucht, ist
ein Nelson Mandela", sagte Tamir auf die Frage, ob es denn
Repressalien gegen die Aktivisten gebe. Dies würde zu viel Aufregung
hervorrufen. Stattdessen würde die Bewegung totgeschwiegen.
Tamir kritisierte gleichzeitig die Berichterstattung der
europäischen Medien, die ein "einfaches Bild" des Konfliktes
zeichneten. Israelis und Palästinenser würden dargestellt als zwei
monolithische Blöcke, die sich gegenseitig vernichten wollen. Doch
gebe es auch eine "andere Stimme Israels", meinte Tamir und wies auf
die Großdemonstration der Friedensbewegung hin, an der sich am
vergangenen Sonntag in Tel Aviv bis zu 100.000 Menschen beteiligten.
Engagement gefordert
Lunacek bezweifelte, dass Israels Premier Ariel Sharon die
palästinensischen Anschläge durch militärische Mittel stoppen kann.
Im Moment sei die Zahl der Attentate zwar zurückgegangen, aber dass
das so bleiben werde, glaubt sie nicht. Lunacek forderte mehr
Engagement der EU und der USA. "Wäre gleich mehr Druck (auf die
israelische Regierung) ausgeübt worden, wäre die Situation heute eine
andere", zeigte sie sich überzeugt. Die EU habe sich bisher
geweigert, das Assoziierungsabkommen mit Israel, das den Export
israelischer Güter erleichtert, auszusetzen. Wenigstens die Produkte
aus den jüdischen Siedlungen sollten ihrer Meinung nach aus dem
Abkommen herausgenommen werden. Dadurch könnte genug Druck auf Israel
ausgeübt werden, um Forderungen durchzusetzen.
Vor allem müsse Israel sofort alle militärischen Operationen
stoppen, sagte Lunacek. Sie forderte außerdem die Freilassung der
inhaftierten Refusniks und eine "Rückkehr an den Verhandlungstisch".
Von der palästinensischen Seite erwartet Lunacek eine
Demokratisierung der Strukturen und die Abhaltung freier Wahlen. (APA)