Reiseführer sind eine sehr naive Literaturgattung. Ob sie nach Oxford, Neu-Brandenburg oder Westsibirien führen wollen, immer bemühen sie sich im frischfröhlichen Ton von Kindergartentanten oder Tierpflegern um ihre Kunden. Entdeckerfreude ist gefragt: Windmühlen außerhalb der Niederlande, Prominentenfriedhöfe, aufwendige Zirkusbauten, Gänse, Tauben, rote Sterne. Ob Lenin in Bremen oder die aufgeschreckten Hühner zu seinen Füßen: Alles ist erlaubt, solange es Idyllen vortäuscht. Ob Siegesplätze, alte Poststraßen oder neue Synagogen - jede Verharmlosung wird leicht akzeptiert. Glaskünstler sollen das trübsinnige Grau vertreiben, ungewohnte Kontraste die Reisenden wieder ermuntern.

Ob im alternativen Milieu von Queensland, von Oxford, oder an den Seen um Minsk oder in Alpbach, Tirol: Jedem wird rasch erklärt, was er nicht wusste, und vor allem, wie er so weit wie möglich fort von "unknown" gerät: Im Film Sobibor, 16. Oktober 1942, 16 Uhr verliest Claude Lanzmann viele Minuten lang die Zahlen der aus den einzelnen Orten nach Sobibor Deportierten. Dazwischen immer wieder Orte mit unbekannter Zahl von Deportierten und dem Kommentar "Unknown". Weder aus solchen Orten möchte jemand sein, noch "unknown". Deshalb reist man, deshalb Reiseführer.

Unknown - das war nur die Zahl der Ermordeten aus einigen gottverlassenen Nestern zwischen Brest und Teschen, kein Reiseführer führt dorthin. Keiner hat Lust, ein "underdog" zu bleiben. Lord Nelson, der längst den Trafalgar Square überblickt, hatte da weniger Probleme, auch Jonathan Swift, immerhin Student in Oxford, machte sich darüber noch wenig Sorgen. Vielleicht unternehmen auch nur Unbedeutendere alles, um "im Gespräch zu bleiben". "Unknown" - allzu unbekannt zu bleiben, das hat auch die Stadt Wien immer wieder und bis zum Exzess befürchtet und alles dagegen unternommen. Das erhöht den Wunsch wegzureisen. Also doch Reiseführer lesen, während draußen Touristen Wien "entdecken"? Die "Unglaubwürdigen Reisen" werden nächsten Freitag fortgesetzt. Bisherige Einträge finden Sie unter: http://derStandard.at/ Kultur. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 06.05. 2002)