Irgendwie relaxt steht die junge Frau in der offenen Türe zum Balkon, grellrot die Ziegel der Brüstung in der Morgensonne. Man sieht ihren schlanken Körper von hinten im Gegenlicht, als Silhouette. Sie trägt nicht viel am Körper, ein ärmelloses Top und kurze Hosen. Mit dem Ellbogen des rechten Arms lehnt sie an der Wand. Und doch ist die Stimmung alles andere denn entspannt. Die Frau telefoniert mit der linken Hand. Und hält die andere an die Stirn, weil sie nicht zu fassen scheint, was sie vor sich sieht: das rauchende World Trade Center.Das Foto wurde mit der Nummer 0785 versehen. Mehr ist nicht bekannt. Man findet es in der Kategorie Onlookers, also "Betrachter". Unter insgesamt 510 Aufnahmen. Doch "Nine Eleven", Notfallnummer von New York und zugleich Datumskürzel für den 11. September 2001, ist ein weites Feld: www.hereisnew- york.org versammelt bis dato 4535 Fotografien im Zusammenhang mit dem Attentat auf das World Trade Center. Man kann sie auf unterschiedlichste Art und Weise am Bildschirm betrachten: Ausgewählt nach dem Zufallsprinzip oder nach Nummern. Oder eben nach unzähligen Themen: Pre 9/11 (440 Aufnahmen), Collapse (357), Immediate Damage (653), Ground Zero (692), Firemen (409), Victims (166), Flags (491), Rescue Dogs (26), Helpers (96) und so weiter. Kein Blick auf die beiden Solitärbauten und deren In-sich-Zusammenstürzen, den es nicht gibt: Aus dem Osten (65), aus dem Südwesten (35), aus dem Norden (130) und so weiter. Bilder der Trauer, des Staunens, des Patriotismus. Die Flugzeuge vor dem Crash. Eine Nonne mit Mundschutz. Eine dichte Wolkendecke, aus der nur die beiden Turmspitzen ragen. Herabstürzende Fassadenteile. Rennende Menschen. Staubwolken. Touristen. Und Laserstrahlen, die markieren, wo einmal die Zwillingstürme standen: eine nahezu lückenlose Dokumentation. Der gute Zweck Doch nicht nur im Internet kann man sich diese Zeugnisse vergegenwärtigen: In zwei leer stehenden Geschäften der Prince Street, von den Eigentümern kostenlos zur Verfügung gestellt, und im Zentrum für Fotografie auf der Sixth Avenue hängen sie, ungeordnet, an den Wänden oder an Seilen, quer durch den Raum gespannt: ausgedruckt im Format 30 mal 40 Zentimeter. Mit weißem Rand, aber ohne Passepartout und Rahmen: history unframed. Der Untertitel von here is new york lautet: a democracy of photographs. Denn die Initiatoren, die zumeist nur als "four individuals" bezeichnet werden (Alice Rose George, Gilles Peress, Michael Shulan und Charles Traub), riefen alle, Professionals wie Amateurfotografen, auf, ihre Bilder zur Verfügung zu stellen. In erster Linie für einen guten Zweck: Jeder Ausdruck, entweder vorrätig oder in Auftrag gegeben, kostet 25 Dollar (knapp 30 Euro), das Geld - bisher mehr als 600.000 Dollar - geht an den WTC Relief Fund der Children's Aid Society. Etwa 7300 Fotos wurden von rund 2500 Personen eingereicht. Fast zwei Drittel davon wurden in den Datenspeicher - das kollektive visuelle Gedächtnis - aufgenommen. Mit einem Terminal verweist auch das Museum of Modern Art auf die Aktion - im Rahmen der Ausstellung Life of the City: Gezeigt werden rund 150 herausragende New-York-Fotos aus der eigenen Sammlung (unter anderem von Alfred Stieglitz, Cindy Sherman, Weegee und Lee Friedlaender). Zudem stehen den Besuchern mehrere Pinnwände zur Verfügung: um ihre eigenen Schnappschüsse zu präsentieren. Dass auch hier "Nine Eleven" das bestimmende Thema bleibt, ist evident.(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17. 5. 2002)