Asien & Pazifik
China: Religion ist kein Opium für das Volk
Die Pekinger Führung schlägt ideologische Purzelbäume, um mithilfe einer neuen Religionspolitik für stabile Verhältnisse zu sorgen
Die Pekinger Führung umwirbt mit einer Änderung ihrer Politik die offiziellen Religionen des Landes. Nachdem
die KP begonnen hat, sich mit
einer ideologischen Kehrtwendung aus einer Vorhut des
Proletariats zu einer Partei für
das gesamte Volk zu wandeln
und ihre Reihen verdienten
Unternehmern öffnen lässt,
wendet sie sich jetzt den Religionen zu.Sie hat die 150 Millionen
Gläubigen unter den fünf großen Religionen ins Visier genommen und bietet ihnen eine langfristige Zusammenarbeit und eine Ende aller Diskriminierungen an. Diese Offerte machte das ZK-Mitglied
und Minister für kommunistische Einheitsfrontpolitik,
Wang Zhaoguo, in einem Beitrag für die jüngste Ausgabe
des ZK-Ideologiemagazins
Qiushi (Wahrheitssuche). Sie
kommt wenige Monate vor
dem für Oktober in Peking erwarteten 16. Parteitag. Auf
ihm soll eine inhaltliche Erneuerung der herrschenden
Parteidoktrin und eine personelle Verjüngung der Führung
abgesegnet werden.
Wang Zhaoguo beschreibt
einige der "neuen Überlegungen zur Religionstheorie und
Politik". So sehe die KP Marx'
Urteil, Religion sei "Opium für
das Volk" nicht mehr als ihre
Handlungsmaxime an. Auf
ideologisches Glatteis gerät
der Spitzenfunktionär aber bei seinem Erklärungsversuch,
warum sich eine dem Atheismus verschriebene Partei auf
eine lebenslange Partnerschaft mit der Religion einstellen müsse. Das von den
Kommunisten vorausgesagte
Absterben der Religion, so
schreibt er, sei ein "langfristiger historischer Prozess, der
wahrscheinlich länger dauern
wird, als das Absterben der
Klassen und des Staates".
Wenn Funktionär Wang mit
dieser Prognose über die Zukunft Recht behält, dann wird
die KP China (für die es theoretisch in einer klassenlosen
Gesellschaft keine Aufgabe mehr gibt) noch vor den Religionen abgestorben sein.
Einheitsfront
Die Partei wolle eine verstärkte Beteiligung der Religionsführer an ihrer "patriotischen Einheitsfront", betont
Wang. Er hütet sich indes davor, den Kirchen noch mehr
Teilhabe an der Macht zu
versprechen. Für Kommunisten bleibe die gesellschaftliche Rolle der Religionen zwiespältig. "Sie werden auch weiterhin von dem in bestimmtem Umfang noch existierende Klassenkampf in China und
international komplizierten
Entwicklungen beeinflusst."
Beobachter werteten diese
Äußerungen als Beleg, dass
die Partei weder ihre Verfolgung von Falungong oder der
papsttreuen Untergrundkirche beenden, noch eine Aussöhnung mit dem Dalai Lama
anstreben will.
Zu Chinas fünf großen
staatlich anerkannten Religionen bekennen sich heute
rund 100 Millionen Buddhisten und Daoisten, 30 Millionen Muslime, 18 Millionen
Protestanten und fünf Millionen Katholiken. Zusammen
machen sie mehr als die doppelte Zahl der 65 Millionen
Mitglieder der KP Chinas aus. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18./19./20.05. 2002)