Zeit
Republik statt Königreich
Im Ersten Weltkrieg wurde mit deutscher Hilfe der litauische Nationalstaat aus der Taufe gehoben. Deutschlands Niederlage verhinderte eine Art Protektorat.
Im Ersten Weltkrieg eroberten die deutschen Truppen zwischen März und September 1915 das gesamte litauisch besiedelte Gebiet. Die deutsche Armee machte zunächst litauische Hoffnungen durch ihr Auftreten als strenge Besatzungsmacht zunichte. Die Leiter des litauischen Flüchtlingskomitees in Sankt Petersburg wurden nicht müde, auf diese daraus folgende Ablehnung der Deutschen hinzuweisen. Sie erhielten nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 weitgehende Zugeständnisse für eine litauische Autonomie.Das war den litauischen Nationalisten zu wenig, denn inzwischen hatte Berlin längst die Bereitschaft gezeigt, Litauen beschränkte Selbstständigkeit zu gewähren. Die Vertreter der politischen Parteien in der Taryba, dem von den Deutschen zugelassenen Landesrat, wählten Antanas Smetona zum Präsidenten. Die Polen, vor allem Großgrundbesitzer und Kleinadelige, verweigerten die Beteiligung an der Taryba. Smetona gab gegenüber historischen Reminiszenzen der Idee eines litauischen Nationalstaates Vorrang, und er wusste, dass dies in der gegebenen Situation nur durch Zusammenarbeit mit den Deutschen realisiert werden konnte.
Die Sozialdemokraten waren gegen jede Bindung an eine ausländische Macht. Smetonas erster Versuch, am 11. Dezember 1917 einen litauischen Staat in Militär- und Zollgemeinschaft mit dem Deutschen Reich auszurufen, schlug am Widerstand der Opposition fehl. Im Frieden von Brest-Litowsk hatten Deutschland und Österreich-Ungarn der bolschewistischen Regierung die Abtretung aller nicht russischen Randgebiete aufgezwungen.
Die Taryba proklamierte am 16. Februar 1918 den demokratischen Staat Litauen; Berlin anerkannte ihn erst nach einer neuerlichen Bündnisverpflichtung und nach Zustimmung der Litauer zu einer konstitutionellen Monarchie. Die Taryba wählte im Juli 1918 den württembergischen Herzog Wilhelm von Urach als "Mindaugas II." zum litauischen König, doch er wurde nicht mehr inthronisiert. Am 2. November 1918 gab die Taryba unter maßgeblicher Beteiligung der nach Lenins Putsch in Petrograd nach Litauen zurückgekehrten Politiker Martinas Ycas und Augustinas Voldemaras dem Land eine westlichem Vorbild nachgebildete Verfassung, am 11. November hob sie den Monarchie-Beschluss auf. Litauen konstituierte sich als demokratische Republik.
Am Beginn der neuen Geschichte der drei Baltikumstaaten stand der Kampf um ihre Freiheit. Diese war von mehreren Seiten bedroht: von den Bolschewiken, die sie für ihre neuen Ordnung vereinnahmen wollten, von der russischen "weißen" Armee, die im Falle ihres Sieges die ehemaligen Ostseeprovinzen des Zarenreichs wieder vereinnahmt hätte, von den Deutschen, die ihren Machtanspruch trotz der Niederlage im Weltkrieg nicht einfach aufgeben wollten. Litauen hatte noch einen weiteren gefährlichen Gegner: das junge Polen, dessen führender Mann Marschall Józef Pilsudski von der Wiederrichtung des alten polnisch-litauischen Großstaates, vom Baltikum bis weit hinein in die Ukraine, träumte. Insbesondere war Pilsudski keinesfalls bereit, den Anspruch Polens auf das Gebiet um die alte litauische Hauptstadt Vilnius, die die Polen Wilno nannten, aufzugeben.
Die neuen litauischen Politiker hielten an der Verwirklichung ihres Nationalstaates fest, allerdings verlangte Augustinas Voldemaras als Premier und Außenminister bei den Verhandlungen in Paris die Einverleibung von gemischtsprachigen weißrussischen und polnischen Gebietsteilen und pochte auf die Zugehörigkeit von Vilnius zu Litauen vor allem unter Hinweis auf dessen Rolle als historische Hauptstadt.
Zunächst musste freilich der Angriff der Bolschewiken abgewehrt werden. Nachdem Lenin noch im Friedensvertrag von Brest-Litowsk die Unabhängigkeit Litauens anerkannt hatte, sah er im Zusammenbruch der deutschen Armee die Chance, die baltischen Territorien zurückzuerobern. Die westlichen Alliierten bedienten sich vorerst noch der in Litauen stehenden deutschen Truppen zur Abwehr der Angriffe der Roten Armee. Als die Deutschen abzogen, wurden litauische Freiwillige mit deren Waffen aufgerüstet. Sie waren aber zu schwach, um die Besetzung von Vilnius durch die Bolschewiken zu verhindern. Diese proklamierten dort am 18. Dezember 1918 eine Litauische Sowjetrepublik. Die bürgerliche litauische Regierung war nach Kaunas geflohen.
Im Zuge neuer Kämpfe verlangten polnische Freiwilligenverbände am 1. Jänner 1919 den Anschluss des Wilna-Gebiets an Polen. Doch die Rote Armee kam zurück, und am 27. Februar 1919 wurde in Wilna eine vereinigte Räterepublik Litauen-Weißrussland ("LITBEL") ausgerufen. Während die Litauer Kaunas gegen die Rote Armee verteidigen konnten, war der polnisch-russische Krieg ausgebrochen, und die Polen besetzten im April erneut die Stadt. Die wechselhaften Kämpfe ermöglichten es der litauischen Regierung, im Sommer in die Hauptstadt zurückzukehren. Sie schloss am 12. Juli 1920 mit Sowjetrussland Frieden; Moskau zog dabei Grenzen, die weit über das eigentliche Wilna-Gebiet hinausreichten und Vilnius als Hauptstadt Litauens ausdrücklich anerkannten.
Mit Polen vereinbarte Litauen eine Demarkationslinie. Der polnische General Lucjan Zeligowski nahm am 9. Oktober 1920 Wilna im Handstreich und proklamierte dort einen "Souveränen Staat Mittellitauen" - eine Farce, um einer Einmischung des Westens vorzubeugen. Zwar trat aufgrund der litauischen Proteste der Völkerbund in Aktion, doch da beide Seiten den Vorschlag einer Konföderation Polen-Litauen ablehnten, schuf Pilsudski vollendete Tatsachen. In Wilna wurde ein Landtag einberufen, der am 20. Februar 1922 den Anschluss der Stadt an Polen beschloss; dessen Grenzen waren ja nach dem Friedensschluss mit den Sowjets weit nach Weißrussland vorgeschoben worden. Die Litauer betrachteten die Annexion ihrer Hauptstadt durch Polen als Raub. Bis zum Jahr 1938 gab es zwischen Kaunas, dem von Litauen als nur provisorisch betrachteten Regierungssitz, und Warschau keine diplomatischen Beziehungen. Die Anerkennung der Grenze wurde von Polen erst 1938 mit einem Ultimatum erzwungen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18. - 20. 5. 2002)