Warum? Kann es einen triftigen Grund geben, dass sich ein zehnjähriges Mädchen, das keinerlei Anzeichen einer depressiven Verstimmung zeigt, das sozial in einen Freundeskreis eingebettet lebt, das auf alle fröhlich wirkt, dass so ein Kind einfach Selbstmord begeht? Es gibt einen Grund, nur wird er im Falle der jungen Steirerin Tina, die sich nach letzten Ermittlungen der Gendarmerie mit der Waffe ihres Vaters das Leben nahm, wohl verborgen bleiben. Der Tod der zehnjährigen Tina mag eine ganz individuelle Ursache haben, die mit ihrer persönlichen Entwicklung im Elternhaus, in der Schule oder im Freundeskreis zu suchen wäre. Die Tat an sich ist aber kein Einzelfall. Selbstmordversuche in diesem Alter sind keine Seltenheit mehr. Sie gehen freilich meist glimpflich aus und bleiben das, was sie sind: Hilferufe.Psychologen weisen darauf hin, dass zunehmend auch bereits Kinder unter Depressionen zu leiden beginnen. Sie werden nur selten als solche diagnostiziert. Depressive Phasen entwickeln sich meist mit Beginn der Pubertät, in der sensiblen Selbstfindungsphase der Kinder. Und hier wäre vielleicht anzusetzen. Haben unsere Kinder noch genügend Möglichkeit, sich selbst zu finden? Oder ist nicht der Kinderalltag, wie die Grazer Therapeutin Mäni Kogler bemerkt, mit Terminen vollgeräumt, sodass zwischen Computerkurs und Musikstunde kein Platz mehr bleibt, das eigene Ich zu entdecken? Es wäre zu einfach, den Selbstmord eines Kindes einzig auf die Eltern, auf die Gesellschaft abzuschieben. Selbstmorde sind das Ergebnis einer langen Leidensentwicklung, die Außenstehende nicht immer wahrnehmen müssen. Es gibt eigentlich nur ein einziges Gegenmittel: Zeit. Sich Zeit nehmen für die Entwicklung der Kinder, damit die ersten Hilferufe nicht überhört werden. (DER STANDARD, Printausgabe 23.05.2002)