Foto: Sony
Lauryn Hill
MTV Unplugged No. 2.0
(Sony)
Von Christian Schachinger
Irgend etwas muss während der vergangenen Jahre bei Lauryn Hill gewaltig schief gelaufen sein. Mit gerade einmal Mitte zwanzig legt die New Yorkerin vier Jahre nach ihrem opulent zwischen HipHop und Soul flanierenden Solodebüt The Miseducation of Lauryn Hill ein Doppelalbum vor, das von seiner Konzeption her gewöhnlich Künstlern in der tiefsten Midlife Crisis gut zu Gesicht steht. Auf MTV Unplugged No. 2.0 dokumentiert Hill nach Millionen verkauften Tonträgern mit The Miseducation of ... , nach fünf Grammys und nach ihrem frühen Durchbruch als Sängerin und wesentliche Komponistin des Trios The Fugees, das schon 1996 mit der Songsammlung The Score für einen der bis heute ungeschlagenen kommerziellen Höhepunkte des HipHop-Genres sorgte, einen radikalen Bruch. Nicht nur, dass Hill alle frühere Sound-Vielfalt radikal abspeckte und in den New Yorker MTV-Studios allein mit akustischer Gitarre und ihrer unvergleichlichen Soul-Stimme vor ihr Publikum tritt. Auch inhaltlich wird hier mit einer offensichtlich mitunter als traumatisch erfahrenen Karriere abgerechnet, wie man es von einer jungen und erfolgreichen Multimillionärin mit eigener Produktionsfirma, die zunehmend auch in Hollywood Fuß zu fassen versucht, definitiv nicht erwartet: "Früher war ich eine Performerin, heute geht es mir darum, meine Erfahrungen mit dem Publikum zu teilen. Ich kann auch heute noch 18 Takte lang 'Baby, Baby, Baby, Baby' singen, aber entscheidend sind die wirklich schweren Inhalte der Songs. Die Menschen verlangen nach Realität ..." Jahrelang, so Hill, sei sie eine Gefangene, ja gar eine Sklavin des Unterhaltungsgewerbes gewesen, ein Teil von ihr und vor allem ihre Kreativität unter den unersättlichen Augen der Öffentlichkeit gestorben. Deshalb nutzte Hill ihre selbst verordnete Mutterschaftspause nicht nur für eine künstlerische Neuorientierung hin zur so genannten Sachlichkeit: "I'm tired of dressing up, I'm tired of fighting, I am what I am." In Songs wie I Gotta Find Peace Of Mind oder Freedom Time bemüht sich die tiefgläubige Sängerin auch, der mittlerweile wohl endgültig von ihrem Idol Bob Marley abgeschauten Spiritualität als universell gedeuteter Freiheitsideologie der Egozentrik ein Sprachrohr zu geben: "Every song is about ME first!" Kurz, uns allen kann es erst gut gehen, wenn wir uns ganz individuell nicht mehr Scheiße fühlen. Das führt dazu, dass Hill während der Songs und den mitunter zwölfminütigen (!!!) Zwischenansagen aus lauter Ergriffenheit über sich selbst nicht nur öfters in Tränen ausbricht. Für ein potenzielles MTV-Unplugged-Publikum, das solche vermeintliche Ehrlichkeit auf der Bühne immer wieder nur allzu gern goutiert, weil es diese Form der Inszenierung immer schon mit Wahrhaftigkeit verwechseln wollte, ein zwingendes Kaufargument. Ebenso wie für die Produzenten des Unplugged-Gewerbes, die im Vorfeld der Show wohl nicht ganz zu Unrecht erst einmal leichte Zweifel gehabt haben dürften, dass hier doch etwas zu viel vom Unplugged-Gedanken verbreitet werden würde. Immerhin hört man hier über zwei Stunden lang, dass sich Hill das Gitarrenspiel nicht schon in frühester Jugend, sondern erst in den vergangenen Jahren mit einer etwas nachlässigen Do-it-yourself-Technik beigebracht hat. Die allzu häufigen Akkordwechsel können deshalb auf dem derzeitigen technischen Stand der Künstlerin im wohlmeinendsten Fall als "charmant" bezeichnet werden. Ein Urteil, das schließlich auch auf das kompositorische Gesamtgefüge der Songs zutrifft. Dem würde man mehr als einmal zumindest zwei, drei zusätzlich unterstützende MusikerInnen wünschen, die dem Strophe-Refrain-Bekenntnisdrang-Schema ein wenig die Ecken und Kanten nehmen könnten. "Working hard to make it sound easy: What's the point about slaving?!" Lauryn Hill 2002 mag der große Erfolg der früheren Jahre mit diesem spröden und dennoch oft geschwätzigen Opus magnum zwischen spiritueller Erleuchtung und totalem Stromausfall zwar versagt bleiben. Als Rührstück in Sachen öffentlicher Läuterung dürfte MTV Unplugged No. 2.0 allerdings beispielgebend werden. Kaum zuvor wurden die Widersprüche zwischen künstlerischem Produktionsalltag und der Vermarktungsmaschinerie so ungeschminkt offen gelegt. Das mag zwar in hohem Maße unreflektiert geschehen sein. Mit diesen zwei Stunden privater Trauerarbeit vor den Augen der Welt ist Hill allerdings ungewollt einmal mehr zur richtungsweisenden Konsens-Artistin geworden. So tief sitzt der Schmerz über die Karrierezwänge dann nämlich doch nicht, dass man die Doppel-CD nicht bei einem Unterhaltungs-Multi unter die Leute bringen könnte. Im vielgeschmähten Babylon nämlich, gegen das auch Bob Marley zeitlebens angesungen hat, dürfen die Sklaven erstens ihre Freiheitslieder singen. Zweitens werden diese auch mit Mengenrabatt in den Handelsketten verkauft. Nicht erst seit heute gilt: Free your mind - your Marketingabteilung will follow. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24. 5. 2002)