Die Edition Korrespondenzen, die am kommenden Dienstag die Kleinverlagsreihe in der "Alten Schmiede" fortsetzen wird (19.00), betreibt eine verblüffende Landvermessung zentraleuropäischer Dichtung. In den Sätzen der bisherigen, immer zweisprachigen, Bände der jungen Edition werden Ungarn (Zsuzsa Rakovszkys Familienroman), Prager Vororte (in Feldarbeit von Petr Bokrovec) und die Slowakei (Sandatlas von Mila Haugova) anders sichtbar: nämlich im Alltag, zwischen "Sparherd und bulgarischem Teller auf der Küchenwand" (Bokrovec). Der diesmal vorgestellte Band des 1948 geborenen polnischen Dichters Piotr Sommer bündelt diese Tendenzen extrem kämpferisch:Keine Angst vor "Poesie", denn Sommer selbst bekämpft sie. Wie auch das Denken in topographischen, "mitteleuropäischen", Kategorien: "Wenn ich an die Alltagspoesie denke - das Gegengift zu globalen Haltungen und Verlockungen -, dann geht es mir nicht darum, wie oft in einem Gedicht Oolong-Tee, der Broadway oder der Mitbürger Malicki aus Swider bei Warschau auftritt, sondern um einen spezifischen Geschmack der Sprache". Also nicht: Geografische Ausflüge. Auch nicht poetische Höhenflüge. Genau damit ist aber sehr viel über Polen zu erfahren: Denn dort, so Sommer, würden geltende Werte (kirchliche, politische) so gerne in "Feierlichkeit" vorgetragen: "Werte, wie wir sie in Polen kennen, müssen immer Kreuzzüge führen und ihre Überlegenheit herauskehren". Und zwar auch in der Literatur - alles sei zu feierlich, kritisiert der Jüngere verblüffenderweise sogar an (für unsere Ohren) gar nicht feierlichen Dichtern wie Milosz und Herbert. Die "Alltagspoesie" Sommers thematisiert also die "geltenden Werte", indem sie sich ihnen verweigert. Stattdessen sprechen seine - von Doreen Daume in gleitendes Parlando gebrachten - Texte "zwischen Haltestelle und Haus" etwa von einer Passantin in der Neujahrsnacht 1976, von Zigarettenrauch und Filmbesuch, von Abwesenheit, Leere, Vorstadt. Seltsam, dass gerade dadurch eine ganz spezifische Warschauer Welt vermittelt wird, zwischen Verwandtenbesuchen und dem Experiment "mit den Worten des Freundes,/ um zu prüfen, ob diese Freundschaft/noch aufrecht ist und ob sie sinnvoll war./ Das Experiment zeigt übrigens/dass sie nicht sinnvoll war." Dieser sensationelle Band zeigt, wie oftmals die Korrespondenzen-Reihe, wie Länder ganz anders "gelesen" werden können: Nicht als Zeitungsmeldung, nicht simpel, sondern als Wertsystem. (Von Richard Reichensperger - Album, 25.05.2002)