Dreißig Jahre harrt Leutnant Drogo auf der imaginären Bergfestung Bastiani aus in Erwartung des Tatarenheeres, das nie kommt. Am Ende stirbt er irgendwo in einem Wirtshausbett, um militärischen Ruhm gebracht und vorzeitig zum Greis gealtert. Die Lage an der Kontrolllinie, die Kaschmir in einen indischen und einen pakistanischen Teil trennt, ist kaum weniger absurd. Doch anders als in Dino Buzzatis Klassiker "Die Tatarenwüste" ist der Feind sehr real und der Hang zum Kafkaesken in Islamabad und Neu-Delhi die eigentliche Gefahr, die beide Länder in den Atomkrieg führen könnte.Eine Million Soldaten stehen sich seit sechs Monaten in Kaschmir gegenüber. Schützengraben um Schützengraben heben sie aus, feuern allenthalben Artilleriegeschoße über die Waffenstillstandslinie von 1949 hinweg und hören von erfolgreichen Raketenversuchen, die indische wie pakistanische Generäle fernab von der Himalajaregion anordneten. "Ich möchte euch beglückwünschen", ließ Pakistans Militärmachthaber und Präsident Pervez Musharraf sein Volk wissen, als am Wochenende eine "Ghauri"-Mittelstreckenrakete ihr Testziel traf. Absurdität hat in der realen Politik jedoch ihren Preis. Dass die Massenmobilisierung an der Kontrolllinie nicht endlos aufrechtzuerhalten ist, weiß nicht zuletzt Indiens Regierungschef Vajpayee, dessen Land das Gros der Soldatenkulisse stellt. Der Hindu-Premier, der sich in den vergangenen Tagen immer tiefer in die Kriegsrhetorik geredet hat, versucht sich mit Worten und Taten etwas Luft zu schaffen: Zur Sommerfrische in einem Erholungsort im Himalaja weilt er, während seine Soldaten auf den großen, den vierten Krieg gegen Pakistan warten; vom "klaren Himmel" sprach er, den keine Kriegswolken trüben, doch der immer einen Blitz bereithalten kann. Solchermaßen ist die Psychologie dieser Kaschmirkrise beschaffen, dass Militärexperten im Westen bereits die möglichen Szenarien eines Asienkriegs durchgehen. Indien begreife seine Atombomben mehr als politische Waffe, Pakistan hingegen seiner konventionellen Unterlegenheit wegen als militärisches Instrument, heißt es, als ob die gegenwärtige Krise damit berechenbarer würde. Indiens Militär könnte versucht sein, begrenzte Angriffe gegen Lager mutmaßlicher Extremisten im pakistanischen Teil Kaschmirs zu fliegen, lautet eine andere Hypothese. Doch der Aufenthaltsort der muslimischen Terrorgruppen, die den Konflikt auslösten, ist in Wahrheit ungewiss, und Pakistans Luftabwehr an der Kontrolllinie gilt als stark. Ähnlich schwer dürfte eine zeitweise Besetzung von Teilen des pakistanischen Kaschmir für "Strafaktionen" gegen die Extremisten zu halten sein. Indiens Optionen schrumpfen so auf dem Boden der Realpolitik. Vajpayee und Musharraf ziehen deshalb die Bühne vor, fuchteln mit Raketentests und sprechen ins Publikum. Die Strategie des doppelten Bluffs gegenüber der Regierung des gegnerischen Landes wie der eigenen Bevölkerung, die auf Taten wartet, erschwert Vermittlern das Geschäft. Noch sind sie nicht auf den Plan getreten - die UNO hat sich über die Jahre in eine neutrale Beobachterrolle bequemt; die EU zählt ohnehin nicht; die Briten mögen als frühere Kolonialmacht Gehör finden, haben aber wenig Einfluss; das US-Außenministerium ist erst vergangene Woche aufgewacht. Washington hat die Kaschmirkrise aus den Augen verloren, nachdem Pakistans Präsident Musharraf Anfang des Jahres dem "Djihad" als Slogan pakistanischer Politik abschwor und hartes Vorgehen gegen die muslimischen Extremisten in Kaschmir schwor. Dass Amerikas neuer Freund in der Region dies nicht konnte oder wollte und die Terrorangriffe auf Indien weitergingen, hat Washington jetzt erst erkannt. Als Schlüsselland im Kampf gegen Al-Qa'ida ist Pakistan zu wichtig für die US-Außenpolitik. Pakistans Stabilisierung braucht Zeit. Die aber verrinnt an der Kontrolllinie. (DER STANDARD, Print, 27.5.2002)