DDie Krise des österreichischen Journalismus gilt seit Menschengedenken als unablöslicher Bestandteil des österreichischen Journalismus. Bedauerlicherweise hat auch die Kritik an diesem Zustand schon bessere Zeiten gesehen. Wie lange ist 's her, dass sich ein Karl Kraus regelmäßig, unbestechlich und auf unendlich höherem sprachlichen und moralischen Niveau als die Objekte seines Zorns der Problematik annahm? Der Unterschied im Niveau ist auch heute gegeben - nur umgekehrt, wie zwei Beispiele aus diesen Tagen und ganz weit auseinander liegenden Ecken zeigen.

Wer heutzutage in diesem Metier eine größtmögliche Annäherung zwischen Intelligenz und Moral ausfindig machen möchte, wird in den meisten Fällen leider enttäuscht werden, denn letztere ist so tief gesunken wie erstere hoch ist, beklagte das Blatt, in dem Intelligenz und Moral ihr Walhalla finden - in "Zur Zeit". Die richtige Moral, versteht sich. Denn nach der Devise, wer besser gegen Entgelt heuchelt, kommt schneller nach oben, wird vielerorts Meinung gemacht.

Wie tief einer moralisch sinken kann, wird am Beispiel eines "Kurier"-Kolumnisten erläutert. Welcher irre Hintergedanke steuert zum Beispiel diesen an und für sich intelligenten, zumindest dem Anschein nach durchaus um Haltung bemühten Journalisten, wenn er in letztklassigem Stil von der "abschreckenden Physiognomie der nationalen alten Herren" herumgackert und über eine "altnationale Trachtenveranstaltung" lästert?

Das wäre noch nicht so schlimm, hätte er damit nicht auch die Philosemiten in den nationalen alten Herren beleidigt. Wohl sieht er noch keine "reale Gefahr", aber einen "Mummenschanz" will er darin schon erkennen. Ja, was geht denn in einem solchen Journalistenhirn nur vor? Und wie denkt übrigens der Herr Kollege über traditionell gekleidete orthodoxe Juden, deren Riten und Bräuche, über das "Outfit" von Tiroler Schützen oder kirchlichen Würdenträgern?

Gut gegeben - wo doch zwischen den Riten und Bräuchen der nationalen alten Herren und traditionell gekleideten orthodoxen Juden, abgesehen von einigen Details des Outfits, so gut wie kein Unterschied besteht. Wie das Blatt hier die Ehre des österreichischen Journalismus rettet, das kann sich sehen lassen, die nationalen alten Herren werden einander vor lauter Begeisterung, dass sie den Vergleich mit orthodoxen Juden nicht länger zu scheuen brauchen, ein paar Mensuren in die abschreckenden Physiognomien hacken. Schon um Verwechslungen vorzubeugen.

Endlich kann man "Zur Zeit" vorbehaltlos zustimmen. Daß sich Journalisten dazu wieder einmal hergeben, ist erschreckend und ernüchternd zugleich. Sollte denn nicht das beanspruchteste Organ bei Journalisten das Gehirn sein? Zugegeben, dieses kann defekt oder einfach überfordert sein. Gesellt sich dazu auch noch das immer häufiger anzutreffende Himbeerpudding-Rückgrat, kommt wohl unweigerlich ein unterwürfig-korruptes, auf jeden Fall ein tendenziöses Geschreibsel heraus. Jetzt ist die Frage: Wird der Himbeerpudding für die Mitarbeiter auch aus der Presseförderung finanziert, die "Zur Zeit" jetzt erhält?

Auch die "Volksstimme", Organ der österreichischen Kommunisten, kam neulich zu dem Schluss, dass es in ganz Österreich keine Qualitätszeitung gibt, sondern nur verschiedene Abstufungen des Boulevards. Bei der Analyse der Ursachen lässt der Sinn für den ökonomische Unterbau freilich ein wenig zu wünschen übrig. Während sich in anderen europäischen Staaten linke JournalistInnen mit ihren eigentlichen Aufgaben beschäftigen können - was mag das sein? -, sehen sie sich in Österreich zusätzlich gezwungen, all die gähnende Leere zu füllen, die anderswo von bürgerlichen, aber qualitativ hochwertigen Zeitungen gefüllt wird.

Nachdem so endlich die Ursachen für die Misere des österreichischen Journalismus geklärt sind, würde nur noch interessieren: Was veranlasste die "Volksstimme", die gähnende Gedankenleere dieses Beitrages mit einer Grafik zu füllen, in der - ohne dass ein Anlass dafür erkennbar wäre - ein orthodoxer Jude mit Schläfenlocken abgebildet ist? Vielleicht wollte sie damit dezent auf die nationalen alten Herren als Schuldige an all der gähnenden Leere hinweisen - und auf diese Weise ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 28. Mai 2002)