Frankreich
Kohabitation: Frankreichs politische Zwangsehe
Bisher neun Jahre Macht-Dualismus an der Staatsspitze
Paris - Gewinnen die Linksparteien die kommenden
Parlamentswahlen, wäre Frankreichs wiedergewählter neogaullistischer
Staatspräsident Jacques Chirac gezwungen, wieder einen
sozialistischen Premierminister zu ernennen. Damit käme es zum
vierten Mal seit Bestehen der Fünften Republik (1958) zu einer so
genannten Kohabitation - dem "Zusammenwohnen" von Präsident und
Premier aus gegnerischen Lagern in einer politischen Zwangsehe.
Bisher gab es zwei jeweils zweijährige "Kohabitationen" zwischen
einem sozialistischen Präsidenten (Francois Mitterrand) und
bürgerlichen Regierungen: 1986-88 mit Chirac, 1993-95 mit Edouard
Balladur als Premier. Die bisher längste Kohabitation dauerte eine volle fünfjährige
Legislaturperiode: Von 1997 bis 2002 musste sich der Neogaullist
Chirac mit einer Linksregierung unter dem Sozialisten Lionel Jospin
arrangieren. In der Verfassung sind die Aufgaben klar verteilt: Der
Staatschef ist der "Garant der nationalen Einheit" und wacht über den
Fortbestand der staatlichen Institutionen (Artikel 5). Der
Premierminister bestimmt die Politik der Nation und führt sie aus
(Artikel 20). Bei der ersten Kohabitation 1986 definierte Mitterrand
die Rolle des Präsidenten so: "Er lässt die Regierung regieren", aber
"er bleibt nicht unbeweglich". Lediglich die Außen- und die
Verteidigungspolitik fallen bei einer solchen Konstellation
unumstritten in die Kompetenz des Präsidenten.
In der Praxis sind Präsident und Regierung trotz unterschiedlicher
Auffassungen zur engen Zusammenarbeit gezwungen. Vor allem im
Verhältnis zwischen Mitterrand und Chirac ging dies nicht ohne
Spannungen vor sich. Mitterrand verweigerte seine Unterschrift unter
zahlreiche Verordnungen der Regierung. Die zweite Kohabitation
zwischen Mitterrand und Balladur verlief harmonischer. Beide sorgten
dafür, dass Frankreich auf internationaler Bühne "mit einer Stimme
sprach". Balladur verglich die Zwangsehe einmal mit einem Western:
"Der Erste, der zieht, ist tot."
Von allen Staatsoberhäuptern der Europäischen Union hat der
französische Präsident die größten Machtbefugnisse. Er wird (seit
2000) für fünf Jahre direkt vom Volk gewählt, ist Garant der
nationalen Unabhängigkeit, ernennt die Regierung, führt selbst den
Vorsitz im Ministerrat, kann die Nationalversammlung auflösen und ist
Oberbefehlshaber der Streitkräfte. In Anbetracht der herausragenden
Stellung des Staatspräsidenten in der Fünften Republik prägte der
prominente Verfassungsrechtler Maurice Duverger in den
Siebzigerjahren den Begriff der "republikanischen Monarchie''. Doch
hängt die Macht des Staatsoberhaupts von den Kräfteverhältnissen im
Parlament ab, das die Regierung stürzen kann.(APA/dpa)