Die Kritik an Martin Walsers unveröffentlichtem Roman "Tod eines Kritikers" hat sich am Freitag weiter zugespitzt. Walter Jens, Ralph Giordano, Günter Kunert und Hellmuth Karasek zeigten kein Verständnis für das Werk und vermuteten Rachegelüste als Motiv Walsers gegen den Kritiker Marcel Reich-Ranicki. Der Suhrkamp Verlag in Frankfurt teilte auf Anfrage
mit, dass Anfang nächster Woche über das weitere Vorgehen entschieden
werden solle. Ursprünglich wollte der Verlag den Roman Ende August
herausbringen, dann gab es Überlegungen das Werk vorzuziehen. Das
Berliner Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus hat Suhrkamp
aufgefordert, das Werk nicht herauszugeben. Der Literaturwissenschafter Walter Jens äußerte sich erstaunt über
das Verhalten vom Suhrkamp Verlag und von Walser: "Wenn das Buch
wirklich antisemitische Töne hat oder so strukturiert ist, wie bisher
behauptet wird, und der Hauptheld als Marcel Reich-Ranicki
auszumachen ist, dann verstehe ich nicht, wieso Verlag und Autor die
Stirn haben können, dieses Buch der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung'
(FAZ) anzubieten, zu deren Galionsfiguren seit Jahrzehnten
Reich-Ranicki gehört", sagte Jens. Das sei "absolut unbegreiflich"
und ein erstaunlicher Vorgang. "Das kann man doch einer Zeitung nicht
antragen, einen ihrer verdienstvollsten Mitarbeiter im eigenen Blatt
an den Pranger zu stellen", meinte Jens.
"Schäbig"
Der Autor Günter Kunert vermutet, dass sich Walser an Reich-
Ranicki rächen wollte. "Das ist schäbig", sagte der Schriftsteller
dem Radiosender mdr kultur. "Wenn man schreibt und verrissen wird,
hat man eben Pech gehabt, aber ein Charakterzug der Deutschen besteht
darin, sich unentwegt als Opfer zu fühlen." Walser sehe sich
permanent als "Opfer des bösen Juden Reich-Ranicki".
Ähnlich äußerte sich der Schriftsteller Ralph Giordano. Auch ohne
das Buchmanuskript zu kennen, frage er sich, ob Walser absichtlich
provozieren wollte. "Der Mann ist doch nicht ganz normal, dass er
sich wieder einen Juden vornimmt. Das erscheint mir nicht als
Zufall", sagte Giordano ebenfalls im Sender mdr kultur. Es sei nicht
verboten in Deutschland, Juden zu kritisieren, es komme allerdings
darauf an, "wie, mit welcher Motivation". Reich-Ranicki habe
Schicksal gespielt und viele Leute vor den Kopf gestoßen, "aber nicht
weil er Jude ist, verdammt noch mal, sondern weil Reich-Ranicki so
ist wie er ist", sagte Giordano.
Karasek: "Verstörendes übles Pamphlet"
Hellmuth Karasek, Literaturkritiker und Mitherausgeber des
"Tagesspiegels", bezeichnete Walsers umstrittenes Buch als zum Teil
"verstörendes übles Pamphlet". In einem Beitrag für die
Freitagausgabe der in Berlin erscheinenden Zeitung gab er dem
Walser-Kritiker Frank Schirrmacher von der FAZ "in einem wesentlichen
Punkt völlig Recht".
Das Buch, dessen Vorabdruck die FAZ verweigert
hatte, sei das "literarische Dokument eines schier übermenschlichen
Hasses, der den Autor überwältigt, weil er sich sein Leben lang unter
der Fuchtel von Reich-Ranicki sah und scheinbar ohnmächtig mitansehen
musste, wie dessen Ruhm durch die verbale Vernichtung Walsers wuchs."
Walsers Buch sei "von ungezügelter Mordlust" beherrscht, es handle
sich aber doch eher um einen literarischen Selbstmord Walsers. Das
Buch sei "thematisch besessen" und "engstirnig". (APA/dpa)