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Zeitgenössische Karikatur

Foto: Archiv
Im August 1939 musste die völlig überraschte Welt die Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen den bisher als ideologische Todfeinde geltenden Diktatoren Hitler und Stalin zur Kenntnis nehmen. Nicht bekannt blieb vorerst das (von der Sowjetunion jahrzehntelang abgestrittene) geheime Zusatzprotokoll, in dem es hieß: "Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland, Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR. Hierbei wird das Interesse Litauens am Wilnaer Gebiet beiderseits anerkannt." Nach Ende des Polenfeldzuges gab Hitler auch Litauen den Russen - im Austausch gegen diesen zunächst zugedachte Gebiete östlich der Weichsel - preis. Während Berlin bereits die ersten Sondierungsgespräche mit dem Kreml aufgenommen hatte, verhandelten die Westmächte noch über einen Beistandspakt, wobei die Frage der baltischen Staaten eine große Rolle spielte. England und Frankreich waren zwar bereit, gemeinsam mit den Sowjets eine "Garantieerklärung" für die drei Länder auch ohne deren Zustimmung abzugeben und sogar Eingriffe gegen "innere Aggression" (die die Russen in einer nicht genehmen innenpolitischen Entwicklung sahen) zuzustimmen, doch scheiterte eine Einigung an der Forderung Stalins nach einem Durchmarschrecht einschließlich der Besetzung von Häfen und Inseln. Der Nichtangriffspakt gab Hitler freie Hand, den Krieg zu beginnen. Die Sowjetunion gab sich Litauen gegenüber großzügig, indem sie diesem von ihrem Anteil an dem besiegten Polen Vilnius mit einem breiten Gebietsstreifen abtrat. Die Freude über die so lange ersehnte Einverleibung der historischen Hauptstadt wurde freilich rasch durch die bald sich steigernden Forderungen der Sowjets getrübt. Zunächst setzte der Kreml ultimativ Verträge durch, in denen für die sowjetischen Truppen Stützpunkte in den drei baltischen Ländern abgezwungen wurden. Diese hielten sich strikt an die ihnen abverlangte Neutralität. Ein Alarmzeichen war auch die Umsiedlung der Deutschbalten aus Estland und Lettland bereits Ende Oktober 1939. Litauen bildete eine Ausnahme - die Umsiedlung der (zahlenmäßig geringeren) Deutschen erfolgte erst auf Grund eines Vertrags mit Moskau im Jänner 1941. Schlag auf Schlag schritt Stalin nun zur Einverleibung der drei Republiken in das Sowjetreich. Nach inszenierten "Provokationen" und der Behauptung, es gebe Pläne für ein baltisches Militärbündnis, forderte die Sowjetunion im Juni 1940 den ungehinderten Zugang ihrer Armee und die Bildung sowjetfreundlicher Regierungen, versicherte aber, die Souveränität der drei Staaten nicht anzutasten. In der Hoffnung darauf unterwarfen sich die alleingelassenen Balten auch diesen Forderungen. Von hohen sowjetischen Emissären unterstützt, wurden nun von Kommunisten Demonstrationen inszeniert. Um der "revolutionären" Bewegung gerecht zu werden, erzwang der Kreml daraufhin eine Änderung des Wahlrechts; unter Ausschluss der Opposition wurden Abgeordnetenversammlungen gewählt. Anfang August stellten sie Anträge auf Eingliederung in die Sowjetunion, welche natürlich bereitwillig angenommen wurden. Mit der Machtübernahme begannen sofort Deportationen der Eliten; aus Litauen wurden 21.000 Personen ins Innere der Sowjetunion verschleppt. Während es dem 66-jährigen Staatspräsidenten Smetona gelungen war, noch 1940 in die USA zu emigrieren, wurde der frühere Premier Voldemaras, der unverständlicherweise aus dem französischen Exil in seine bereits von sowjetischen Truppen besetzte Heimat zurückgekehrt war, nach Moskau gebracht und starb dort im Gefängnis. Vergeblich gaben sich die Litauer nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion der Illusion hin, die Deutschen würden ihnen eine wenn auch beschränkte Souveränität zugestehen. Der antikommunistische Widerstand hatte bereits in den ersten Tagen nach dem deutschen Angriff mehrere Städte in seiner Hand und bildete in Kaunas eine provisorische Regierung. Sie löste sich auf, als klar wurde, dass ihr die neuen Besatzer keinerlei Kompetenzen zugestehen wollten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 1. 6. 2002)