Frankreich
Le-Pen-Unsicherheitsfaktor lähmt
Frankreichs Meinungsforscher wagen vor Wahlen keinePrognose
Paris - Frankreichs Meinungsforscher wagen vor
den Parlamentswahlen am 9. und 16. Juni kaum eine Prognose. Sie sind
sehr vorsichtig geworden, nachdem niemand den Erfolg des Chefs der
rechtsextremen "Nationalen Front" (FN), Jean-Marie Le Pen, bei der
Präsidentenwahl vor sechs Wochen vorhergesehen hatte. Da das Ergebnis
der Parlamentswahl wahrscheinlich sehr knapp sein werde, sei es
besser, vage zu bleiben, verlautet aus dem Pariser
Meinungsforschungsinstitut BVA. Die meisten Meinungsforscher rechnen allerdings damit, dass sich
Staatspräsident Jacques Chirac in der künftigen Nationalversammlung
auf eine regierungsfähige bürgerliche Mehrheit wird stützen können.
Nur wenige halten eine linke Parlamentsmehrheit und damit eine
weitere "Kohabitation" für wahrscheinlich. Doch die Wahl zur
Nationalversammlung ist längst nicht entschieden. Nach dem
französischen Mehrheitswahlsystem nehmen alle Kandidaten mit einem
Stimmenanteil von mehr als 12,5 Prozent der eingeschriebenen Wähler
im jeweiligen Wahlkreis an einer Stichwahl teil, in der dann
derjenige mit den meisten Stimmen gewinnt.
Rekordzahl
Um die 577 Abgeordnetensitze bewerben sich 8456 Kandidaten, in
manchen Wahlkreisen sind es mehr als zwanzig, und diese Rekordzahl
bereitet den Meinungsforschern Kopfschmerzen. "Parlamentswahlen sind
immer kompliziert, aber diese ist besonders schwierig wegen des
Le-Pen-Faktors, der die Sache noch unsicherer macht", sagt der
Direktor des SOFRES-Instituts, Philippe Mechet. In schätzungsweise
230 Wahlbezirken könnte die "Nationale Front" zum Zünglein an der
Waage werden. "Dreierkämpfe" ("Triangulaires") in der Stichwahl
zwischen Rechtsbürgerlichen, Linken und Rechtsextremen haben 1997 den
Linksparteien genützt und ihnen zum Sieg verholfen.
Würden die Franzosen bei den Parlamentswahlen so abstimmen wie im
ersten Durchgang der Präsidentenwahl, dann hätte dies eine neuerliche
"Kohabitation" zur Folge. Während in der alten Nationalversammlung
320 linke und 257 rechte Abgeordnete saßen, würde nach einer vom
Nachrichtenmagazin "L'Express" erstellten Stimmen-"Simulation" die
neue Kammer 319 linke, 256 rechte und zwei rechtsextreme Mitglieder
zählen.
Wählerwille, verfälscht
Der Wählerwille wird durch das französische Wahlsystem weitgehend
verfälscht. Denn es ist möglich, dass vierzig Prozent der Stimmen
ausreichen, um nahezu achtzig Prozent der Mandate zu gewinnen. Im
ersten Wahlgang ist nur gewählt, wer die absolute Mehrheit der
abgegebenen gültigen Stimmen bekommt. Die Stimmen der unterlegenen
Kandidaten werden landesweit nicht berücksichtigt. Im zweiten
Wahlgang reicht die einfache Mehrheit, um gewählt zu sein.
Vor fünf Jahren hatten sich die Meinungsforscher verschätzt: Kurz
bevor Chirac 1997 die Nationalversammlung mit ihrer bürgerlichen
Mehrheit vorzeitig auflöste, hatten die Umfragen eine bequeme
Mehrheit für das bürgerliche Lager ergeben. Gesiegt hatten aber
unerwartet die Sozialisten unter Lionel Jospin mit ihren
Bündnispartnern, Kommunisten, Grünen, Bürgerbewegung und
linksliberalen Radikalen. Jospins großer Fehler war es, gegen den
Willen Chiracs den Wahlkalender 2002 umzudrehen in der Hoffnung, dass
dies für die Linke vorteilhaft wäre. Niemand hätte ihm seine
katastrophale Niederlage bei der Präsidentenwahl prophezeien können. (APA/Reuters)