Graz - Eines der wohl meistzitierten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts ist Karl Poppers "Offene Gesellschaft und ihre Feinde". Entstanden im neuseeländischen Exil Mitte der 40er-Jahre, bildeten die Schrecken der NS-Herrschaft und die illusionslose Beobachtung der nachrevolutionären russischen Realität den Hintergrund zu seiner antitotalitären, antidogmatischen und antiholistischen Philosophie.Dennoch hat Poppers Ideologiekritik bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Angesichts eines weltweiten religiösen Fundamentalismus, nationalistischer Tendenzen und einer vorrationalen Polarisierung der Welt in Mächte des Bösen und des Guten findet die Popper-Lektüre auch zu seinem 100sten Geburtstag im heurigen Jahr nicht im philosophischen Elfenbeinturm statt. Karl Poppers liberales Menschen- und Gesellschaftsbild, seine intensive Auseinandersetzung mit den Kategorien "Freiheit" und "Demokratie" verbinden ihn mit einem - in diesem Zusammenhang oft übersehenen - anderen großen Denker seiner Generation: dem bislang vor allem als Existenzphilosophen rezipierten Karl Jaspers. Wie Popper warnte er in seinen Schriften vor dem Entstehen totalitärer Gesellschaftsformen und plädierte mit unerschütterlichem Optimismus für eine verstärkte Integration der Vernunft in die politische Praxis. Wie weit sich Popper und Jaspers in ihrer liberal-demokratischen, antitotalitären Grundausrichtung tatsächlich treffen und wie aktuell ihre politische Philosophie heute noch ist, wird nun in einem vom Wissenschaftsfonds (FWF) unterstützten Projekt einer genaueren Analyse unterzogen. "Die wichtigste Idee in Jaspers' politischer Philosophie ist seine Forderung nach einer radikalen moralischen und politischen Umkehr", erklärt der Grazer Philosoph und Projektleiter Kurt Salamun. "In ihr sah er den einzigen Ausweg aus der drohenden Alternative zwischen Atomkrieg und Totalitarismus." Utopisches Ziel aller politischen Bemühungen, die aus den Schienen der Machtpolitik herausgeholt und einer "Gemeinschaft der Vernünftigen" zu überantworten sei, ist für Jaspers nichts Geringeres als der "Weltfriede". Diesem könne man sich aber nicht mithilfe von Religionen annähern, da jede von ihnen absolutistische Tendenzen in sich berge. Der einzig sinnvolle Weg führe über eine vernunftgestärkte pluralistisch-demokratische Gesellschaft und eine "universale Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Kulturen". Aus dieser Idee einer gemeinsamen weltweiten Ethik entstanden übrigens nach 1945 die Vereinten Nationen - ein trotz seiner eher bescheidenen realpolitischen Wirksamkeit bemerkenswertes Symbol für aufgeklärten Humanismus. In bester Kantscher Tradition setzen sowohl Jaspers als auch Popper großes Vertrauen in die durchaus als fehlbar erkannte menschliche Vernunft - allerdings nur, solange sie zur Selbstkritik fähig ist. Den politischen Utopien, die meist durch radikale Umstürze realisiert werden und denen diese Offenheit zur permanenten Selbstkorrektur fehle, setzt Popper die heilsame Wirkung schrittweiser gesellschaftlicher Reformen entgegen. "Zentrale Kategorien dabei, sagt Philosoph Salamun, "sind die ethische Verantwortung des Einzelnen und die Macht der freien Meinung als permanente Korrektive einer offenen, sich laufend reformierenden Gesellschaft." Dass dieses Konzept auch für demokratiepolitische Fehlentwicklungen wie etwa die Medienkonzentration die Sinne schärft, bestätigt einmal mehr, wie zeitgemäß dieser philosophische Diskurs ist. (Doris Griesser/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4. 6. 2002)