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Bülent Ecevit

Foto: APA/EPA/Tinazay
Der seit Wochen schwer erkrankte türkische Regierungschef Bülent Ecevit war trotz intensiver Bemühungen seiner Ärzte am Freitag nicht in der Lage, an einem von Staatspräsident Ahmet Necmettin Sezer einberufenen Gipfeltreffen aller im Parlament vertretenen Parteien teilzunehmen. Nachdem Ecevit bereits in der vergangenen Woche eine wichtige Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates auf Anraten seiner Ärzte nicht besuchen konnte, ist seine Handlungsunfähigkeit nun manifest geworden. Damit steht die Türkei vor einer Regierungskrise, die das Land auf Monate hin lähmen könnte.

Dabei sollte am Freitag ein genau gegenteiliges Signal ausgesendet werden. Mit dem von ihm einberufenen Gipfeltreffen wollte Staatspräsident Sezer Bewegung in eine bereits festgefahrene politische Situation bringen und vor allem die türkischen Schritte zur Annäherung an die EU beschleunigen.

Stellvertreter streiten

Seit Monaten wird in den Parteien, im Parlament, aber auch in Industriellenverbänden, Gewerkschaften und der Armee über die Abschaffung der Todesstrafe, die Zulassung kurdischsprachiger Fernseh- und Radioprogramme und Schulunterricht in kurdischer Sprache diskutiert. Während Ecevit von Woche zu Woche mehr verfällt, lassen seine beiden Stellvertreter im Amt des Premiers, der ultrarechte Devlet Bahceli und der wirtschaftsliberale Mesut Yilmaz, keine Gelegenheit aus, übereinander herzufallen. Während Yilmaz möglichst schnell im Hinblick auf die EU alles klar machen will, steht Bahceli auf der Bremse.

Doch die Abwesenheit Ecevits gab dem gestrigen Gipfeltreffen einen völlig anderen Charakter. Offiziell wurde im Anschluss an das vierstündige Treffen nur ein nichtssagendes Kommuniqué veröffentlicht, in dem die Parteien versichern, sie seien alle für den EU-Beitritt. Hinter den Türen ging es dann tatsächlich darum, wie die jetzt offenkundige Regierungskrise überwunden werden kann. Während die Opposition auf Neuwahlen bereits im Herbst drängt, wollen die drei Regierungsparteien aufgrund schlechter eigener Umfragewerte die Koalition möglichst lange fortsetzen, auch wenn die politischen Gemeinsamkeiten längst aufgebraucht sind. Ihr Problem ist jedoch, dass sie sich intern nicht auf einen Nachfolger Ecevits einigen können. Keiner der beiden Stellvertreter ist bereit, den jeweils anderen zu akzeptieren, und ein Nachfolger aus Ecevits eigener Partei ist ebenfalls nicht in Sicht.

Dabei kommt der Stillstand der Exekutive zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Das Land befindet sich nach wie vor in einer schweren Wirtschaftskrise, und ohne handlungsfähige Regierung wird sich daran kaum etwas ändern. Vor allem aber die Hoffnung auf einen Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlungen im kommenden Jahr wird die Türkei abschreiben müssen, wenn nicht bald die wirklich sensiblen Fragen gegenüber Brüssel geklärt sind.

(DER STANDARD, Printausgabe, 8.6.2002)