Wenn die "Documenta 11" eines nicht ist, dann mutig. Selbst die Entscheidung, mit Okwui Enwezor erstmals einen nicht europäischen Leiter für die angejahrte und arg mythosgeplagte Weltkunstschau zu wählen, war weniger ein euphorisch ausgestoßenes Signal zum Neubeginn, denn ein Spagat zwischen den Forderungen des kapitalintensiven amerikanischen Kunstmarkts, endlich den Leiter zu stellen, und dem Wunsch Kassels, auch weiterhin der Kunst vorzureiten.

Letztlich eine Quotenregelung. Nach Catherine David als erster Frau, sollte mit Okwui Enwezor ein erster Afrikaner der Schau vorstehen.

Die längst unüberhörbaren und selbst im Handel schon ansatzweise erhörten Rufe nach einer Öffnung über die Kunst der G 8 hinaus hat David für Kassel eingeleitet, Enwezor sollte sie endgültig umsetzen. Was er gemacht hat, ist, genau den Spagat zu illustrieren, der zu seiner Wahl führte. Ein Gutteil der ausgestellten Nicht-G 8-Künstler ist durch große Galerien bestens vertreten, durch Ausstellungen in Museen und Kunstvereinen, durch Beteiligungen an den Biennalen von Venedig oder Johannesburg bestens eingeführt. Okwui Enwezor hat "Diaspora-Künstler" eingeladen, westlich geschulte bzw. mit dem Kunstmarktregelwerk und den gerade aktuellen Theoriemodellen bestens vertraute Produzenten. Die Stimme der "Namenlosen" vernimmt man nicht.

Seine Schau zu untermauern, bat er noch einen Pulk namhafter Kulturwissenschafter, einen Überbau aus den Gender-, Rassismus-, Migrations- Identitäts- und Kolonialdebatten der späten 80er- und 90er Jahre zu sampeln. Angereichert um die wiedererstarkte Form der Lebensbewältigung im Kollektiv, sollte nichts schief laufen. Sofern, was durchaus eingetroffen ist, vermieden wird, Jan Hoets sexuell obsessiven Umgang mit Kunst auch nur irgendwie nahe zu kommen. Produziert der doch nur Werke, in sich geschlossene und also massiv bevormundende Aussagen, kraftmeiernde Riesenskulpturen, allerfrechste Tabubrüche. So etwas ist heute wieder gefährlich.

Und Catherine Davids Jubiläums-Documenta hatte einen Nachteil: Hinter dem Hundert-Tage-Programm zerfranste eine Ausstellung, zerfiel die Präsentation in zusammenhanglose Zellen. Das hat Enwezor korrigiert: An der Oberfläche ist die Schau recht klar strukturiert, keine Documenta wirkte aufgeräumter. Aber ist das, im Sinne des Dokumentarischen, mindestens ebenso obsessive wie materialintensive Aufstöbern und Archivieren und folglich An-die-Öffentlichkeit-Tragen von Material irgendwie befriedigend, erkenntnisfördernd?

Es ist oft genug ein tadelloser, von Interesse und Respekt getragener Blick auf die Anderen. Der Blick der Anderen, ihre Weltsicht, ihre Visionen kommen nicht vor. Peter Weibel bemerkte in einer ZDF-Talkshow zurecht, das ihm unter all den architektonischen Visionen, welche die Schau, von den historischen Modellen Constants bis zum naiven Bunt von Bodys Isek Kingelez, vorstellt, ein visionäres Architekturmodell, abgeht: das Höhlensystem der Taliban.

Wieso das nicht vorkam? Womöglich deshalb, weil den Taliban die Documenta wohl nur schwerlich als Karriereziel einzureden gewesen wäre. Auch eine vorbereitende Plattform in Afghanistan hätte niemanden dankbar gestimmt. Kassel sollte einsehen, das es nicht reicht, herzlich willkommen zu sagen. (Markus Mittringer, DER STANDARD, Printausgabe, 11.6.2002)