Wien - Harald Kislinger führt ein wahres Uraufführungsleben: Schon 1979 wurde
Television
des damals 21-jährigen Oberösterreichers im Linzer Kellertheater zutage gefördert. Das Burgtheater nahm sich der
Steinheiligen
an (UA 1986), noch 1991/92 durfte sich Kislinger als meisturaufgeführter Dramatiker des deutschen Sprachraums bezeichnen. Und zuletzt sah man im mittlerweile nicht mehr existierenden Schaufenster des Wiener Schauspielhauses erstmals den wüsten Beziehungsakt
Neger
(2001).
Im Gegenwartstaumel hat sich das Volkstheater nun in die Endlosschleife eingeklinkt und Kislingers neuestem Text,
Meine Mama mein Temelin
, eine Uraufführung am Plafond beschert, die Peter M. Preissler reichlich fantasielos verbaute. Der familiensoziologische Aufriss Kislingers ist in der Grundkonstellation der
Volksvernichtung
seines verstorbenen Autorenfreundes Werner Schwab nicht unähnlich: Mutter und Künstlersohn verhandeln in Abgeschiedenheit die eigenen Existenzen vor dem Hintergrund der bösen Nachbarin Grollfeuer. Letztere besteht hier aus einem realen Brennkern, dem des tschechischen Kernkraftwerks Temelín.
Auf dem mit Mühlviertler Baumrinden dicht bedeckten Plafond unter dem Dach des Theaters stapeln sich die aus dem Leben vor der nun erreichten Endzeit stammenden Gebrauchsgüter der Bäuerin. Erika Mottl mit Kopftuch und Gummistiefeln erzählt stapfend vom einst trügerischen Idyll, "als Temelín noch weit war". Während ihr Sohn (Christian Kainradl) gegen die so zurechtgezimmerte Vergangenheit in Stichproben immer wieder zornig Einspruch erhebt. Sie stapelt Möbel, Kleider, Schuhe ihres unbefriedigenden Lebens zum letzten Feuerwerk. Einer Atomkatastrophe will sie eigenhändig zuvorkommen und selbst brennen. Das eigene Kind will es ihr gleichtun.
Daraus hätte Preissler etwas machen können, doch dieses "Höllenbild der Krallen" (Kislinger) fasst der Regisseur als Haupt-, Höhe- und eigentlichen Schlusspunkt der Inszenierung in ein Theaterschreckbild: Mutter und Sohn wickeln sich, aufeinander zugehend, in roten Seidenstoff! Es wird dunkel und kommt noch besser. Ein neuer Tag, eine neue Hoffnung: Die beiden Mitglieder der Kleinfamilie begegnen einander erneut und stellen fest, es war nur ein schlechter Traum. "Hast wieder von dem Temelín geträumt?"
O ja, wir auch. Im Panoramarund einer entfernten Hügellandschaft hat der Text eine Stunde lang die Gegenwart verloren und uns bloß an eine Angst erinnert, die - mannigfach medial vermittelt - um ein weiteres wegrückte. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.6.2002)