Mit einem Fehlstart direkt ins Chaos - so sah am Mittwoch der Befund von zwei Tagen Loya Jirga aus. Die afghanische "Große Versammlung" sträubte sich heftig, die Aufgabe zu erfüllen, die ihr in der Geschichte immer zugekommen ist: die Absegnung von vorher ausgeschnapsten Beschlüssen der Mächtigen. Die Obstruktion kam aber nicht etwa daher, dass das demokratische Bewusstsein in Afghanistan einen ersten Höhenflug erlebt, nein, es geht um Machtkämpfe alter, wohlbekannter Figuren.

Die Polarisierung wurde kurioserweise gerade durch die Präsenz dessen ausgelöst, der eigentlich als Integrationsfigur für Afghanistan angetreten ist: der 87-jährige, zuletzt kränkelnde Exkönig Mohammed Zahir Schah. Sein Verzicht auf die Präsidentschaftskandidatur hat jene Paschtunen in die Realität zurückgestoßen, die in ihm den Erretter vor der tadschikischen Übermacht der ehemaligen Nordallianz sahen und ihn in einem politischen Amt, eben als Präsidenten - und nicht nur als Baba-ye Watan, Vater der Nation, mit schönen, aber marginalen Aufgaben - haben wollten.

Karsai ist zwar auch Paschtune, hat sich nach Ansicht der Anhänger des Exkönigs jedoch mit den Tadschiken gut, zu gut arrangiert. Zuletzt sah es so aus, als ob diese bereit wären, wenigstens etwas von der Macht abzugeben, die sich jetzt fast ungebrochen in ihrer Hand befindet: Die Tadschiken haben Innen-, Außen-, Verteidigungsministerium und die Geheimdienste - und Verteidigungsminister Mohammed Fahim etwa hat sich überhaupt erst Anfang Juni bequemt, die Beschlüsse der Petersburger Konferenz vom Dezember insofern zu vollziehen, als er einen Nationalen Verteidigungsrat schuf, der auch die anderen Gruppen einbezieht.

Und so vermuten viele Delegierte, darunter viele alte Mudjahedin verschiedener ethnischer Zugehörigkeit, tadschikischen Druck hinter der Verzichtserklärung von Zahir Schah, den sie jetzt in die Pflicht nehmen wollen: Er habe gesagt, er werde jede ihm vom Volk verliehene Aufgabe übernehmen. Karsai gilt bei ihnen - eine Einschätzung, die bis zu einem gewissen Grad stimmen mag - als Vasall der USA, die allein an Stabilität in Afghanistan interessiert sind, was wiederum eine starke, vielleicht nicht allzu pluralistische Regierung am ehesten garantiert: also am besten einen Karsai als Präsidenten in einem Präsidialsystem mit starker - tadschikischer - Armee. Innenpolitisch wären die Paschtunen des Exkönigs aber wohl nur noch zufrieden zu stellen, wenn sie einen - nicht zu schwachen - Ministerpräsidenten bekämen.

Angesichts all dessen ging nicht nur die Präsidentenwahl nicht so glatt über die Bühne, wie vor der Versammlung erwartet wurde, es ist noch mit einigen Problemen bei der Wahl der Regierungsmitglieder zu rechnen. In Wahrheit wurden von vornherein nicht einmal die Aufgaben der Loya Jirga insofern definiert, als man jetzt genau weiß, für wessen Wahl sie wirklich zuständig ist oder nicht.

Solange sich frustrierte Delegierte nur aufs Ausziehen aus der Versammlung beschränken, wie das am Mittwoch geschah, geht das Ritual jedoch weiter, auch wenn die bei der Loya Jirga neu aufgebrochenen Gräben die "realities on the ground" in Afghanistan nicht leichter machen werden. Die Warlords, die sich zum Teil recht erfolgreich gegen die Macht des entstehenden afghanischen Staates sträubten, bekommen neues Futter - ein Grund mehr für Karsai, die starken Tadschiken bei der Stange zu halten, ein Grund mehr für Unzufriedenheit.

Dass die Vorgänge in Afghanistan mit Demokratie nicht viel zu tun haben, mussten die Vertreter der Zivilgesellschaft, allen voran die Frauen, schon im Vorfeld der Loya Jirga erfahren. Realistischerweise muss man jedoch eingestehen, dass die Tatsache, dass sie in der afghanischen Politik auch in den nächsten Jahren nicht zum Zug kommen werden, nicht das größte Problem des Landes sein wird. Wenn es so wäre - wie schön für Afghanistan. (DER STANDARD, Printausgabe, 13.6.2002)