Bild nicht mehr verfügbar.

Eric Harris und Dylan Klebold, die beiden Todesschützen von Littleton, aufgenommen von einer Sicherheitskamera

Foto: Reuters/Caskey
Heute Florida, morgen Arkansas. Dann die Michigan State Police, anschließend ein Sprung nach Europa zu einem Polizeiseminar in Holland, zwei Tage später wieder Michigan, gefolgt von New Hampshire, Kalifornien und Ohio. Lieutenant Colonel Dave Grossman hat einen Terminkalender wie ein Opernstar. Dabei sind seine Töne alles andere als lieblich und erbaulich. Denn Grossman spricht hauptsächlich darüber, wie man Menschen erschießt. Er ist gewissermaßen der Frank Sinatra der Killologie. Ja, er hat nicht nur diesen Begriff, sondern das Forschungsgebiet selbst geschaffen - die Wissenschaft vom Töten. Wäre da nicht so etwas Kantiges um seine Kinnlade, würde Grossman noch heute, im Alter von 46 Jahren, problemlos im Rollenfach "lieber Junge & idealer Schwiegersohn" reüssieren. Mit seinem Kurzhaarschnitt, seinen etwas abstehenden Ohren und seinem "Ich-sehe-jedem-ins-Gesicht"-Blick erweckt er jedenfalls jenes Grundvertrauen, das man mit dem Hinweis auf einen möglichen Gebrauchtwagenkauf zu qualifizieren pflegt. Dave Grossman wirkt einfach sympathisch. Aber er kann so eiskalt reden, dass es sogar Soldaten graust. Sein Fachgebiet ist nämlich genau jener Aspekt des Kampfes, den auch Soldaten lieber nicht zu genau wissen wollen: Wie es ist, Menschen zu töten. Denn der Mensch hat - wie übrigens auch die meisten Tiere - eine tief sitzende Hemmung, die eigenen Artgenossen umzubringen. Die Evolutionsbiologen deuten dies seit Konrad Lorenz als ein von der Natur vorgegebenes Verhaltensprogramm, das dazu dient, die Spezies vor der Selbstauslöschung zu bewahren. Selbst Piranhas kämpfen untereinander nur mit Flossenschlägen; ihre tödlichen Beißattacken reservieren sie für artfremde Lebewesen. Aus diesem Grunde waren die Tötungsquoten ("Kill Rates") der meisten Armeen auf der Welt quer durch die Geschichte bemerkenswert niedrig. Nach der Schlacht von Gettysburg zum Beispiel, jenem entscheidenden Waffengang des amerikanischen Bürgerkriegs, der Anfang Juli 1863 die Niederlage der sezessionistischen Südstaaten besiegelte, wurden auf dem Feld 27.000 Musketen eingesammelt; 90 Prozent davon waren geladen, mehr als die Hälfte sogar mehrfach. Das heißt, die Soldaten hatten gar nicht gefeuert. Militärisch betrachtet, stellt das ein Problem dar, an dessen militärischer Bearbeitung Grossman 23 Jahre lang mitgewirkt hat - als Ausbilder der U.S. Army. "Eine Schießquote von nur 15 Prozent bei Soldaten ist wie eine Alphabetisierungsrate von 15 Prozent bei Buchhändlern", erklärt er und wartet genüsslich ab, bis sich sein Publikum über diesen Satz beruhigt hat. Denn jetzt erst kommt der Teil seines Vortrags, in dem er aus dem Nähkästchen plaudert. Jetzt erläutert Grossman, was er unter anderem als Dozent an der Akademie der amerikanischen Streitkräfte in West Point gelehrt hat: mentales Tötungstraining. Die Sache klingt übel (und sie ist es auch). Aber wenn der Staat einem Teil der Bevölkerung, nämlich der Armee, die Aufgabe überträgt, das Land zu verteidigen und Krieg zu führen, und wenn der Staat den Bevölkerungsteil namens Armee zu diesem Zweck mit tödlichen Waffen ausrüstet, dann muss diese Armee auch in den Stand versetzt werden, die Waffen möglichst effektiv zu gebrauchen. Wie das geschieht, hat Grossman schon in seinem 1995 erschienenen Buch On Killing dargestellt, das bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde, obwohl es sich zum Bestseller entwickelte: Es wurde für den Pulitzerpreis nominiert, es ist Pflichtlektüre in West Point, an der U.S. Luftwaffenakademie in Colorado Springs sowie an Polizeihochschulen in der ganzen Welt und es liegt mittlerweile in der 9. Auflage vor. On Killing ist eine Studie über die Voraussetzungen und Folgen des Tötens von Menschen durch Menschen. Es ist kein Buch über Mörder, sondern über Soldaten und Polizisten. Es ist kein politisches Pamphlet, sondern eine nüchterne Analyse der psychischen Kosten, die mit dem Töten im staatlichen Auftrag verbunden sind. Der Erfolg dieses Buchs eröffnete Grossman völlig neue Berufsperspektiven. Er quittierte seinen Dienst bei der Armee und wagte den Sprung in die Selbstständigkeit. Mit 42 Jahren begann er eine Karriere als freiberuflicher Autor und Gastredner. Doch kaum hatte er den Dienst bei den Streitkräften quittiert, da geschah in seiner Heimatstadt Jonesboro etwas, das wie ein schlimmer ironischer Kommentar zu seiner früheren Tätigkeit erscheint: Jonesboro im Bundesstaat Arkansas ist seit dem 24. März 1998 bekannt für eines der grässlichsten Blutbäder, das amerikanische Schüler an amerikanischen Schulen angerichtet haben. Ein Elf- und ein Dreizehnjähriger lösten erst falschen Feueralarm aus und beschossen dann aus dem Hinterhalt die aus dem Gebäude laufenden Menschen. Eine Lehrerin und vier Mädchen starben im Kugelhagel, zehn weitere Personen wurden schwer verletzt. Die Tragödie an der Westside Middle School ereignete sich bloß ein paar Straßen hinter Grossmans Haus. Und seitdem geht der ehemalige Soldatenausbilder der Frage nach: Wie werden Kinder zu kalten Killern ausgebildet? Denn Grossman weiß: zum Killen gehört Können, das ohne Ausbildung gar nicht zu haben ist. Es handelt sich dabei nicht nur um technisches, sondern vor allem um psychisches Vermögen. Der Drill in der preußischen oder napoleonischen Armee diente ja zu nichts anderem, als dieses Vermögen zu erhöhen. Denn durch Drill, das heißt, durch gezielte Einübung von Reaktionen auf feststehende Reize, wird die Hemmschranke allmählich gesenkt. Dies ist eine der sichersten Erkenntnisse der Psychologie. So umstritten auch viele andere Aspekte des so genannten Behaviorismus im Gefolge von Pavlow, Thorndike, Watson und Skinner sein mögen - die Formbarkeit des menschlichen Nervenkostüms darf als Gewissheit gelten. Und nicht von ungefähr ist das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten weltweit der größte Auftraggeber psychologischer Forschung überhaupt. Wer formt, fragt Grossman, die Nervenstränge Jugendlicher so, dass sie nicht schon nach dem Anblick der Wirkungen des ersten Schusses zusammenbrechen? Die Schreie, die Wunden, das Blut, die Panik und schließlich die grässlichen Erscheinungsformen des Todes - all das müssen sie durch vielfaches Sehen trainiert haben, um im Augenblick der Tat unerschüttert zu bleiben und ihr Vernichtungsvorhaben durchführen zu können. Oh ja, sagt Grossman, die Medienwirkungsforschung liefert widersprüchliche Ergebnisse, und es ist chic geworden, die Medien für wirkungslos zu halten. Bei der Soldatenausbildung führen sie aber zu ausgezeichneten Ergebnissen, so wie die Verwendung lebensechter Plastikpuppen statt bloßer Zielscheiben bei Schießübungen den Killreflex im Feldeinsatz bedeutend erhöht hat: lag er bis zum Zweiten Weltkrieg bei durchschnittlich 20 Prozent, so erreicht eine durchtrainierte Armee heute 90 Prozent. Und es ist nicht nur die Absenkung der Angst- und Ekelschwelle, was der Konsum von realitätsnahen Tötungsdarstellungen bewirkt, sondern es ist eine Form von Konditionierung, die sogar bei der Armee als inakzeptabel gilt - jedenfalls bei einer von rechtsstaatlichen Grundwerten geleiteten Armee. Die Rede ist von der so genannten positiven Verstärkung. Wenn das Killen mit Lusterfahrungen verbunden wird, dann - so lehrt Dave Grossman - verwandelt sich der Soldat in eine wahrhaft entmenschte Tötungsmaschine. Die Japaner machten das im Zweiten Weltkrieg mit ihren Leuten. Und das Kino macht es mit unseren Kindern, indem der Anblick von Massenexekutionen, Leichen und grässlich verstümmelten Torsos sich mit dem angenehmen Geschmack von Popcorn und Cola und dem lieblichen Geruch des Parfüms der Freundin zu einem höchst prekären Gesamteindruck verbindet. Grossmans zweites Buch Stop Teaching Our Kids to Kill ist voll von solchen Beispielen. Natürlich kann man sie sämtlich wegwischen mit der Behauptung, es sei ja nichts bewiesen. Mantraartig wiederholen Cineasten und Feuilletonisten, Videofreaks und Fernsehfritzen seit Jahrzehnten ihren Glaubenssatz, dass die Wirkung von Bildern auf die Seele bloß eine Chimäre sei. Grossman kann darüber nur lachen. Schließlich lebt ein gigantischer Wirtschaftszweig, nämlich die Werbeindustrie, seit der Erfindung des Films von der Annahme des Gegenteils: Würde soviel Geld in Reklamespots gepumpt, wenn zu befürchten wäre, dass derlei Produktionen bei den Betrachtern gar keine Verhaltensfolgen hätten? Im Juli 2000 gaben die American Medical Association, die American Psychiatric Association, die American Academy of Pediatrics und die American Academy of Child and Adolescent Psychiatry eine gemeinsame Erklärung heraus, in der es hieß: "Weit über 1000 wissenschaftliche Untersuchungen deuten auf eine Kausalbeziehung zwischen dem Konsum von filmischen Gewaltdarstellungen und aggressivem Verhalten bei manchen Kindern hin." Grossman führt auch eine Studie an, der zufolge sich in jeder Region der USA, wo das Fernsehen Einzug hielt, fünfzehn Jahre später die Mordrate verdoppelte: erst an der Ostküste, dann an der Westküste, dann in der Mitte. Fünfzehn Jahre - so lange brauchen Fernseh-Kids, um waffenreif zu werden. Und dabei ist diese Rechnung noch geschönt, denn nur wenn es Tote gibt, zählt die Mordstatistik weiter. Dank dem medizinischen Fortschritt überleben jedoch immer mehr Gewaltopfer. (Burkhard Müller-Ullrich/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15./16. 6. 2002)