Die Rückkehr zu Budgetdefiziten in der EU wird erst längerfristig zum Problem
Redaktion
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EU-Wirtschaftskommissar Pedro Solbes wirkt wie ein Lehrer, der seine Schüler nicht im Zaum halten kann. Zwar haben sich alle EU-Staaten verpflichtet, bis 2004 ein ausgeglichenes Budget vorzulegen, doch vor allem die großen Länder pfeifen auf diese Vorgabe. Nach Deutschland und Portugal droht auch Frankreich und Italien eine Mahnung aus Brüssel; selbst der neue Musterschüler Österreich steht im Fach Budgetpolitik nicht mehr auf einer Eins. Wird damit der ganze Stabilitätspakt hinfällig?
So manche würden es herzlich begrüßen, wenn das budgetäre Korsett, das Deutschland der EU einst aufgezwungen hat, gelockert oder überhaupt abgestreift wird. Schließlich gibt es keinen objektiven Zusammenhang zwischen Defiziten einzelner Staaten und der Stabilität des Euro. Seit den Erkenntnissen von John Maynard Keynes sind sich Ökonomen einig, dass ein öffentliches Defizit in mageren Jahren wünschenswert ist. Eine Regierung, die in einer Rezession versucht, ein Defizit durch Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen zu vermeiden, macht die Krise nur noch schlimmer.
Doch Keynes forderte auch, in fetteren Jahren die Schulden durch Überschüsse wieder abzubauen und mittelfristig einen ausgeglichenen Haushalt anzustreben. Das ständige Deficit-Spending in Westeuropa in den Siebziger-und Achtzigerjahren war eine Perversion seiner Ideen.
Der Stabilitätspakt war vor allem als Lösung für ein politisches Dilemma gedacht: Es fällt jedem Finanzminister viel leichter, in einem Abschwung den Geldhahn aufzudrehen, als ihn bei den ersten Zeichen des Aufschwungs wieder zu schließen. In dieser Phase ist der Ruf nach sozialen Ausgaben und öffentlichen Investitionen besonders laut, wird die Budgetsanierung daher gerne vernachlässigt. Dank des Stabilitätspaktes, der die EU-Staaten mittelfristig zu einem ausgeglichenen Haushalt verpflichtet und das Defizit bei Androhung schwerer Strafen auf drei Prozent begrenzt, sollte sich der Finanzminister auf Brüssel ausreden können, wenn er sich dem Druck nach Mehrausgaben und Steuersenkungen widersetzt.
Von einer intelligenten antizyklischen Budgetpolitik ist die EU allerdings noch weit entfernt. Sie erfordert nämlich eine rasche Anpassung an wirtschaftliche Gegebenheiten, wie etwa die Geldpolitik von Notenbanken. Doch Budgetpolitik lässt sich nicht auf gleiche Weise entpolitisieren. Wer in den Wahlkampf zieht, verspricht schöne Dinge wie Steuerreform und Kindergeld, und die Erfüllung solcher Wahlversprechen sind dem Sieger, wie etwa Jacques Chirac, wichtiger als gute Zensuren aus Brüssel.
Aber auch in die andere Richtung fehlt es an Flexibilität: Als Karl-Heinz Grasser im Sommer 2000 das Nulldefizit erfand, war das nicht nur geschicktes Politikmarketing, sondern auch der damaligen Hochkonjunktur angepasst. Als sich bald darauf die Weltwirtschaft eintrübte, hätte ein kleines Defizit dem Lande wieder gut getan. Doch wie erklärt man dem Bürger, dass das nationale Ziel Nulldefizit nicht mehr gilt? Im Vorjahr war Österreichs Fiskalpolitik daher mehr von sportlichen als von ökonomischen Motiven getrieben. Das heurige Defizit ist kein Zeichen des Versagens des Finanzministers, wie es die Opposition behauptet, sondern der wiedergewonnenen Vernunft.
Eine Rückkehr zum ungebremsten Schuldenmachen ist trotz Aufweichung der Stabilitätskriterien nicht in Sicht. Dennoch sind die Signale aus Paris, Bonn und Rom beunruhigend. Denn mittelfristig sind ausgeglichene Haushalte in den meisten europäischen Ländern nicht genug. In den öffentlichen Pensionssystemen tickt durch die Überalterung eine Zeitbombe, die im nächsten Jahrzehnt viele Länder vor die Wahl stellen wird, den Generationenvertrag zu kündigen oder die laufenden Pensionen durch höhere Budgetdefizite zu finanzieren. Auch Österreich wäre gut beraten, bis dahin seine Schulden möglichst weit abzubauen und bei Lehrer Solbes wieder auf eine Eins zu kommen. (DER STANDARD, Print- Ausgabe, 19.6.2002)
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