Bei der Todesstrafe, jenem alten Spitzenreiter auf der Liste amerikanisch-europäischer Reizthemen, hat sich in Washington in dieser Woche Außerordentliches getan. Mit deutlicher Mehrheit hat sich der Supreme Court dafür entschieden, dass geistig zurückgebliebenen Mördern eine mindere Schuldfähigkeit zuzubilligen sei. Daher sei es verfassungswidrig, die Todesstrafe gegen diese Menschen zu verhängen.

Für europäische Sensibilitäten mag ein Urteil, das einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit zum Durchbruch verhilft, wenig sensationell erscheinen. Das - durchaus umstrittene - Urteil steht allerdings nicht ganz vereinzelt da. So haben in den letzten Monaten und Jahren auch einige Bundesstaaten - etwa Illinois und Maryland - die Vollstreckung von Todesurteilen ausgesetzt, weil sie erst einmal exakt untersuchen lassen wollen, ob diese nicht überproportional häufig gegen Angehörige von Minderheiten verhängt werden.

Um jene grundlegende Absage an die Todesstrafe, die sich die Europäer ersehnen würden, geht es weder im einen noch im anderen Fall - ihre Befürworter sind in den USA immer noch klar in der Mehrheit. Wohl aber darf man eine neue Nachdenklichkeit konstatieren, die sich unter dem Eindruck einiger offenkundiger Fehlurteile, die erst durch die neuen Möglichkeiten der DNA-Analyse aufgedeckt werden konnten, eingestellt hat. Auch die vollkommen unzureichende Pflichtverteidigung von Angeklagten aus den untersten sozialen Schichten ist zu einem Thema geworden, das zunehmend häufiger diskutiert wird. In ihrer Summe lassen solche Ereignisse leise Hoffnungen aufkeimen, dass die Todesstrafe vielleicht doch nicht so felsenfest ins amerikanische Rechtsverständnis einzementiert ist, wie man sich dies üblicherweise vorstellt. (DER STANDARD, Printausgabe, 22./23.6.2002)